Geflüchtete auf Lesbos: Ständiger Ausnahmezustand
2020 verschärfte sich die Lage Geflüchteter am Rand Europas. Unsere Autorin berichtet regelmäßig von Lesbos. Hier blickt sie auf das Jahr zurück.
Blechern schallt „Frosty The Snowman“ aus den Lautsprechern an der Hafenpromenade. Auf dem Schiff der griechischen Marine rauchen Männer in Uniformen. Inselbewohner:innen stehen vor den Gemüsegeschäften an. Es ist Freitagmorgen in Mytilini auf der Insel Lesbos. Die Sonne scheint. Zusammen mit einem Freund laufe ich zum Industriehafen. Wir blinzeln gegen die Wintersonne an. Am Morgen erreichte uns die Nachricht von einem Schiffbruch vor der Insel. Noch immer werden drei Menschen vermisst.
Das letzte Mal sah ich im März Menschen aus den Booten steigen. Immer wieder wurden Journalist:innen in den vergangenen Monaten auf der Insel kurzzeitig verhaftet, bedrängt oder eingeschüchtert, wenn sie bei einer Ankunft von Geflüchteten anwesend waren. Sie sollen nicht Zeugen illegaler Pushbacks werden. In diesem Jahr erreichten 9.600 Menschen in Schlauchbooten Griechenland. 50.000 weniger als im Jahr zuvor.
Lesbos wurde vor zwei Jahren zu meinem Zuhause. Schon zu diesem Zeitpunkt war die Insel im Ausnahmezustand, doch es wurde nicht mehr viel darüber berichtet. Das Flüchtlingscamp Moria war ein Ort der Gefahr, in dem Exzesse der Gewalt durch die Isolation immer weiter befördert wurden. Schon damals wurden Menschen beim Warten auf ihr Asylverfahren traumatischen Bedingungen ausgesetzt. Europa verschloss die Augen vor den eigenen Rechtsnormen wie Schutzverantwortung und Rechtsstaatlichkeit. Ich wollte die politischen Zusammenhänge verstehen und blieb.
Seit Moria im September niedergebrannt ist, hat sich die psychische Gesundheit vieler Campbewohner:innen im neuen Lager laut Ärzte ohne Grenzen dramatisch verschlechtert. Immer mehr Eltern berichten, dass ihre Kinder nachts schlafwandeln, Panikattacken haben oder schreien, ohne aufzuwachen.
Schon vor dem Brand seien die Ärzte und Krankenschwestern im Krankenhaus von Lesbos nicht darauf vorbereitet gewesen, Folteropfer oder Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung zu betreuen. „Spätestens nach einer Woche haben Menschen hier mit Bildern zu kämpfen, die sie ein Leben lang verfolgen“, erzählte mir die somalische Krankenschwester Yasmin A., die selbst knapp zwei Jahre lang in dem Lager lebte. „Jeden Tag ein neues Bild, das man im Sand verwischen möchte, doch der Strand bleibt unerreichbar.“
Für die Menschen auf Lesbos hörte der Ausnahmezustand nie auf, auch nicht in diesem Winter. Doch fangen wir von vorn an.
Im Januar 2020 fangen immer mehr Campbewohner:innen an, gegen die Unterversorgung in Moria zu demonstrieren. Sie laufen mit ihren Kindern auf den Schultern in die Hafenstadt, fordern „Freiheit“ auf abgeschnittenen Pappkartons. Die Demo wird mit Tränengas zurückgedrängt.
Rechte bewaffnen sich mit Steinen
Im Februar bewaffnen sich rechtsradikale Gruppierungen mit Ketten und Steinen, patrouillieren in den Straßen, schlagen auf Mietautos ein, die vermeintlich internationalen Helfern gehören. Der Gewalt folgen Demonstrationen der Inselbevölkerung, die sich gegen den Plan der griechischen Regierung, eine neue „geschlossene Campstruktur“ im Hinterland der Insel zu errichten, stemmen.
Als die Türkei ankündigt, die Grenzen zu öffnen, werden Ärztinnen aus ihren Wagen gezogen. Immer wieder berichten Geflüchtete in den Lagern von gewalttätigen Übergriffen auf dem Weg zum Supermarkt oder Fußballplatz. An einem Sonntag steht das Transitlager des Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Flammen. Humanitäre Hilfsorganisationen schicken ihre Mitarbeiter:innen aus Sicherheitsgründen auf das Festland. Meine Freunde, die in diesen Wochen gehen mussten, sind großteils nicht mehr auf die Insel zurückgekehrt.
Als Reaktion auf die Ankündigung der Türkei setzt Griechenland Ende Februar das Recht auf Asyl aus. Bis Mitte April können Asylsuchende nicht befragt werden und bekommen keine Entscheidungen über ihren Asylstatus. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen fliegt im Hubschrauber über die Insel, dankt der griechischen Regierung, das „Schild“ Europas zu sein, und sichert weitere 700 Millionen Euro Finanzhilfe zu.
Eine ältere Afghanin, die ich seit einem Jahr begleite, sagt mir Mitte März am Telefon, „alles ist so still geworden“. Sie konnte die Nacht über nicht schlafen. Ihr Container sei voller Rauch. Ich bin da gerade auf dem Weg nach Deutschland und lese noch am Flughafen, dass ein Kabelbrand ein sechsjähriges Mädchen tötete. Tausende Menschen flohen aus den Unterkünften. Währenddessen kündigt die Bundesregierung an, die humanitäre Aufnahme von Geflüchteten aus dem Ausland wegen Corona „bis auf Weiteres“ zu stoppen.
Vier Tage später dürfen die 14.000 Campbewohner:innen das alte Militärgelände von Moria nur noch mit Ausnahmegenehmigung verlassen. Die Ausgangssperre hat schon vor dem Eintreffen des Coronavirus im Lager Anfang September verheerende Folgen: Nur die Polizei kann jetzt einen Krankenwagen für eine Behandlung rufen. Krankheiten wie Tuberkulose oder HIV kann das lokale Gesundheitssystem gar nicht stemmen. „Es wird Zeit, persönlich zu werden“, sagt mir Yasmin in dieser Zeit.
Sie sitzt dabei in einem gelben Kleid vor dem Campeingang in der Sonne. Ein Freund von ihr war am Tag zuvor mit 30 Jahren an einer Herzkrankheit gestorben. Tagelang sei er nicht von der Polizei zur Behandlung ins Krankenhaus überwiesen worden. Es sind nicht die lauten Tage, die bleiben, es sind immer die leisen. „Die Tage danach“, sagt Yasmin.
Anfang Juni teilt der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis mit, dass die Asylbehörden seit Januar 11.000 negative Asylbescheide ausgestellt hätten, um Deportationen zu beschleunigen und die Insellager zu entlasten. Im selben Zug bekommen Hunderte Familien binnen weniger Tage im Juli einen roten Stempel in den Ausweis gedrückt, der sie als „Flüchtling“ anerkennt. Ganz gleich ob Anerkennung oder Ablehnung: beide Gruppen dürfen nur 30 Tage in den Camps bleiben. Ihnen wird die monatliche Unterstützung von etwa 90 Euro entzogen.
Nach einem Jahr voller Abstand und Kontaktbeschränkungen widmen wir uns in unserer Weihnachtsausgabe dem Gefühl, ohne das 2020 wohl erst recht nicht auszuhalten gewesen wäre: der Liebe. Muss man sich wirklich selbst lieben, um geliebt werden zu können? Hilft der Kauf eines Flügels bei der Auseinandersetzung mit dem Kind, das man einmal war? Und was passiert eigentlich mit all den Lebkuchenherzen, die nicht auf Weihnachtsmärkten verkauft werden konnten? Ab Donnerstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Hunderte Menschen packen in diesen Wochen ihre Habseligkeiten in Plastiktüten und laufen zum Hafen von Mytilini, um nach Athen überzusetzen. Die Hoffnung der Geflüchteten: raus aus Moria, irgendwie wird es auf dem Festland schon weitergehen. Eine von ihnen ist die 20-jährige Bara aus dem syrischen Idlib. Wir stehen zusammen an der Reling und sehen die Hafenstadt in der Gischt verschwinden. „Kann ich dich etwas fragen?“, sagt sie. „Meine Freunde sagten mir, ich solle das Kopftuch ausziehen, da ich jetzt in Europa bin. Stimmt das? Ich habe das Gefühl, dass ich Europa noch gar nicht gesehen habe.“
Die Hoffnung der griechischen Regierung in dieser Zeit: Die Schutzsuchenden werden Wege finden, in andere EU-Länder zu reisen, statt in Athen auf der Straße zu leben. Ein Weg ist es, Reisepapiere zu beantragen, mit denen sie sich als anerkannte Geflüchtete 90 Tage in anderen Schengenstaaten aufhalten können. Die Realität: Die meisten landen in Griechenland in der Obdachlosigkeit. Immer mehr Familien berichten in Moria, dass Freunde sie anriefen, ob es möglich sei, zurück nach Moria zu gehen. Dort hätten sie zumindest etwas zu essen bekommen.
Am 2. September wird der erste Fall von Corona im Lager bekannt. Sicherheitskräfte riegeln die Menschen fortan komplett ab.
Eine Woche später brennt das Lager Moria dann bis auf die Grundfesten ab. 13.000 Menschen sind abermals auf der Flucht. Neun Tage lang müssen sie sich in den Feldern wegducken, um ihre Notdurft zu verrichten. Mütter waschen ihre Kinder an einem Wasserhahn an einer geschlossenen Tankstelle. Auf Demonstrationen der Vertriebenen antwortet die Polizei mit Tränengas. Humanitäre Helfer:innen werden nur willkürlich durchgelassen.
Eine junge Frau aus Afghanistan steht drei Tage hintereinander auf einem Abrisshaus neben der Straße und hält ein Schild in die Luft: „Es ist besser, für die Freiheit zu sterben, als das ganze Leben im Gefängnis zu sein.“
Ein neues temporäres Lager wird innerhalb weniger Stunden auf einem Militärübungsplatz errichtet, direkt neben dem Ort, an dem die Menschen neun Tage lang nach dem Brand von der Polizei eingekesselt wurden. Die Menschen berichten von der Panik, abermals in eine isolierte „Struktur“ zu kommen. Polizist:innen verteilen Zettel, auf denen steht, „im neuen Camp wird es genug Essen, Wasser, Elektrizität und Wi-Fi geben“.
Heute, vier Monate nach dem Brand, hausen 7.300 Menschen noch immer in Zelten, im Regen, am Meer. Ohne durchgängige Elektrizität, viele ohne einmal heiß geduscht zu haben seit dem Feuer.
„Wir Migranten sind die Fenster, durch die die Einheimischen die Welt sehen können“, schrieb der Medientheoretiker Villem Flusser, der 1940 vor den Nationalsozialisten von Prag nach London geflohen war. „Die Heimat des Heimatlosen ist der Andere.“
Doch was passiert, wenn „der Andere“ überhaupt nicht mehr zu sehen ist? Wenn es immer weniger Schnittstellen der Begegnung zwischen Fliehenden und Einheimischen gibt? Wenn die Ränder der Peripherie immer breiter werden?
Zwanzig Minuten lang holpere ich einen Tag nach dem Schiffsunglück im Dezember die Schotterpiste zu einer Mülldeponie hinauf. Hier soll bis September 2021 ein neues permanentes Lager entstehen. Bis zum nächsten Supermarkt sind es zwei Stunden zu Fuß. Die Ein- und Ausgänge sollen streng bewacht werden.
Auf dem Handy eine neue Nachricht von einem Freund: Zwei Menschen wurden nach dem Bootsunglück lebend geborgen. Eine Frau ist bei dem Versuch gestorben, in Europa Sicherheit zu finden.
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