Geflüchtete Jugendliche in Handschellen: Gewalt als Ultima Ratio
Die gewaltsame Umverteilung Minderjähriger aus Bremen war Thema in der Sozialdeputation. Alles rechtens, sagt die Sozialsenatorin.
Grund dafür war die Veröffentlichung zweier Fälle durch den Flüchtlingsrat und den Verein Fluchtraum. Zwei Jugendliche sollen danach von der Polizei aus ihren Betten in der Erstaufnahmeeinrichtung Steinsetzer Straße geholt, mit Handschellen gefesselt und in andere Bundesländer gebracht worden sein. Auch während der Fahrt dorthin wurden ihnen die Handschellen nicht abgenommen.
„Wir agieren auf Basis der geltenden Gesetze“, verteidigte Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) die Maßnahmen am Donnerstag und widersprach damit der Auffassung des Flüchtlingsrats, nach der Zwangsmaßnahmen gegen Minderjährige ausnahmslos Kindeswohlverletzungen darstellen.
Dass die zwangsweise „Verteilung“ eines Jugendlichen und die Fesselung mit Handschellen nicht im Interesse des Kindeswohls liegt, hat auch bereits im Jahr 2017 ein Gutachten des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV) festgestellt.
Kindeswohl geht vor Umverteilung
Unter anderem heißt es dort, die Verteilung sei ausgeschlossen, wenn sich ein Minderjähriger der Umverteilung verweigere und zu befürchten sei, „dass eine Durchführung der Verteilung entgegen dieser starken Ablehnungshaltung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer (Re-)Traumatisierung führen kann“. Spätestens bei einer Überführung in Handschellen und Fußfesseln oder unter Anwendung anderer Zwangsmittel durch die Polizei sei aber genau davon auszugehen.
Sofia Leonidakis (Die Linke)
Der Bericht der Sozialbehörde schließt sich dem nicht an: Dort heißt es, die GutachterInnen des DV „verkennen die Regelungsintention des Bundesgesetzgebers, der ausdrücklich von einem mit der Zuweisung verbundenen Wechsel des Aufenthaltsortes“ des Jugendlichen spreche.
Gundula Oerter vom Flüchtlingsrat Bremen widerspricht: „Die Umverteilung eines Jugendlichen ist gegenüber dem Kindeswohl immer nachrangig und diesem untergeordnet – denn die Regelungsintention des Gesetzgebers ist laut Sozialgesetzbuch 8 vorrangig das Kindeswohl.“
Auch der Aussage des DV, nach der das Jugendamt bei in Obhut befindlichen Jugendlichen nur dann berechtigt sei, die Polizei mit Zwangsmaßnahmen zu beauftragen, wenn diese dem Schutz des Jugendlichen vor einer dringenden Gefahr diene, widerspricht die Sozialbehörde: Durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs solle die Umsetzung der Umverteilung, an der der Jugendliche nicht freiwilllig mitwirke, sichergestellt werde, heißt es in dem Bericht.
Jugendamt widerspricht sich
„In den Bescheiden der beiden Jugendlichen“, sagt Oerter, „wird die Androhung unmittelbaren Zwangs allerdings damit begründet, dass ein weiterer Verbleib der Jugendlichen in der vorläufigen Inobhutnahme eine Gefährdung ihres Kindeswohls darstellen würde – das Jugendamt hat also genau das gemacht, was es abstreitet.“ Hinzu komme: „Wenn in der Erstaufnahme der Inneren Mission das Kindeswohl gefährdet ist, muss sie sofort geschlossen werden.“ Nicht nur an dieser Stelle, sagt Oerter, sei der Bericht eine „Nebelkerze“.
Man halte sich, so der Bericht, an die Auffassung des Bundesfamilienministeriums. Das halte in einem Schreiben „die Anwendung von Zwangsmitteln in derartigen Fällen für grundsätzlich rechtlich zulässig, sofern sie einer strengen Verhältnimäßigkeitsprüfung Stand halte.“
In einem der taz vorliegenden Vermerk anlässlich eines Treffens der „Arbeitsgruppe Landesstellen zur Umverteilung von unbegleiteten minderjährigen Ausländern“, verfasst von Stefan Hansen vom Landesjugendamt Niedersachsen, zeigt sich allerdings kein so eindeutiges Bild: Debattiert wurde laut Hansen „kontrovers“ und ohne Einigung über „die Zulässigkeit der zwangsweisen Durchsetzung von Verteilentscheidungen“ – wobei Hansen sich der Rechtsauffassung des DV anschließt.
Angesichts der Bremer Fälle stellt sich überdies die Frage, was mit der zitierten „strengen Verhältnismäßigkeit“ gemeint ist, denn bei einem der beiden Jugendlichen wurde offenbar nicht allzu streng hingeschaut: Sein Zuweisungsbescheid wurde in Nachhinein wieder aufgehoben, weil, das räumt der Bericht auch ein, „ihm nicht hinreichend rechtliches Gehör gewährt worden“ ist.
„Nicht alles, was rechtlich möglich ist, muss auch pädagogisch geboten sein“, sagte in der Deputation Thomas Pörschke (Grüne). Und Sofia Leonidakis (Linke) sagte: „Wir können die Praxis aus einer grundsätzlichen Haltung nicht gutheißen, weil Zwangsmaßnahmen in der Jugendhilfe nichts zu suchen haben.“ Hier handele es sich nicht um eine juristische, sondern um eine politische Frage: „Und ich freue mich über die Debatte, die definitiv noch nicht beendet ist.“
Bundesländer verfahren anders
Sie vermute, sagt Oerter, die seit der neuen Legislatur als „ständiger Gast“ für den Flüchtlingsrat Rederecht in der Sozialdeputation innehat, „dass die Gewaltanwendung auch innerhalb der Sozialbehörde umstritten ist.“ In der Tat sagte Stahmann, man wolle sich nun die Praxis anderer Bundesländer anschauen „und auch unsere Praxis selbst noch einmal hinterfragen.“
Eine taz-Anfrage bei den Flüchtlingsräten der Bundesländer wurde bis Redaktionsschluss nicht von allen beantwortet, die vorliegenden Rückmeldungen sind allerdings einhellig: nein, zwangsweise Umverteilungen wie jene in Bremen seien dort nicht bekannt.
„Nach unseren Erkenntnissen wird in keinem anderen Bundesland diese Zwangsmaßnahme durchgeführt“, sagt Oerter. „Einige Landesjugendämter halten diese Gewaltanwendung schlichtweg für rechtswidrig.“
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