Gefährdete Artenvielfalt: Der Mensch hängt am Wurm
Regenwürmer sind wichtig für das Ökosystem. Doch Wissenschaftler wissen wenig über die bedrohten Tiere. Etwa wie sie mit Glyphosat klarkommen.
Schmetterlinge haben Fans, sogar Libellen, neuerdings auch Bienen. Regenwürmer nicht. Keine Hobby-Regenwurmbeobachterin legt sich im Oktober auf den abgeernteten Ackerboden, wartet bis ein Tauwurm sein rotbraunes, gesichtsloses Kopfende aus einem Erdloch steckt, sich streckt und staucht und den schlauchartigen Körper bis weit über den Brustring heraus auf den Erdboden schiebt, sich einen graubraunen Halm schnappt und in die Höhle zieht.
Dabei könnten Freizeit-Annelidaisten, benannt nach dem Stamm Annelida, der Ringelwürmer, zu denen die Regenwürmer gehören, Ökologinnen und Biologen nun unterstützen. Sie könnten wertvolle Daten aus den Zeiten vor dem großen Sterben unter Insekten, Spinnen und den anderen Wirbellosen beisteuern, zu denen auch die Regenwürmer gehören.
„Wir wissen nicht, wie es den Regenwürmern geht“, sagt Roswitha Walter, Leiterin der Arbeitsgruppe Bodentiere an der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft in Freising. Sie ist zuständig für die Regenwürmer in den Ackerböden des Freistaats.
Ihre Aussage erstaunt, da sie und die Wissenschaftler an anderen landwirtschaftlichen Forschungseinrichtungen die Regenwürmer in allen möglichen Lebenslagen beforschen. „Die Datenlage ist zu gering“, sagt Walter, die Jahr für Jahr Regenwürmer in rund 20 der 130 Bodendauerbeobachtungsflächen Bayerns vom trockenen Franken bis in das regenreiche Allgäu untersucht.
Der Kosmopolit
Die Agrarwissenschaftler interessieren sich eigentlich brennend für die in Äckern häufig vorkommenden Regenwurmarten wie den Tauwurm Lumbricus terrestris oder Aporrectodea caliginosa, den die Berliner Regenwurmforscherin Stefanie Krück einen „ausgesprochenen Kosmopoliten“ nennt.
Aporrectodea c. lebt in allen Bodenarten von Sand bis Ton und gräbt sich durch Äcker, Wiesen, Wälder, Parks und Gärten und ist vermutlich der erste Regenwurm, den Kinder aus einer Pfütze fischen. Andere der 47 Regenwurmarten in Deutschland haben sich spezialisiert. Der smaragdgrüne Alpenregenwurm lebt ausschließlich in den nasskalten Fichtenwäldern der Alpen, der Badische Riesenregenwurm gräbt mit 60 Zentimeter Länge von Kopf bis Schwanz nur im Schwarzwald.
Mit einer kleinen Drehung aus dem Handgelenk zieht Roswitha Walter einen Tauwurm am Schwanzende zwischen Grasbüscheln aus einem Kleegrasacker. Dann hängt Lumbricus terrestris in Walters Pinzette wie eine Bandnudel in der Spaghettizange, das Kopfende glänzt violettbraun bis hinter das Clitellum, ein aus zahlreichen Drüsen gebildeter Gürtel am vorderen Körperende, der bei der Fortpflanzung der Regen- und Tauwürmer eine entscheidende Rolle spielt. 20 Zentimeter Wurmlänge hat das Tier zu einer muskulösen etwa kleinfingerdicken Rolle angespannt.
Formaldehyd treibt die Tiere aus dem Boden
Ohne Augen, ohne Ohren ist der Wurm dem Empfinden seiner Haut ausgeliefert. Die hatte ihn aus dem Erdloch getrieben, denn Roswitha Walter wartet nicht bis die Würmer sich von allein aus ihren Höhlen hangeln. Sie hat den Boden des Kleegrasackers innerhalb eines Metallrings mit einer Wasser-Formaldehyd-Lösung begossen und treibt die flachgrabenden und die tiefgrabenden Würmer damit aus der Erde.
„Ruhig sein“, sagt Walter. „Sie reagieren auf Erschütterungen und ziehen sich zurück“, sagt Walter in der Hocke, die Hände in hellblauen Gummihandschuhen auf den Knien abgelegt. Formaldehyd ätzt, weshalb Walter die Würmer in klares Wasser legt, sobald sie auftauchen.
Roswitha Walter, wurmforscherin
Ein streichholzzarter Flachgräber windet sich durch das Gras, entgeht nicht der drehenden Bewegung und der 30 Zentimeter langen Pinzette. Die erdbewohnenden, grabenden Würmer sind eher langsam unterwegs, ziehen aber geschickt ihre Ringmuskulatur zusammen, entspannen, strecken und stauchen, drücken so die Flüssigkeit im Körper zusammen und treiben mit dem Druck aus der Entspannung ihren Körper torpedoartig voran. Deswegen die drehende Bewegung aus dem Handgelenk, um die Würmer aus dem Gras zu schrauben.
„Vögel ziehen am Wurm, bis der abreißt“, sagt Walter, den Kleegrasacker im Metallrund fest im Blick. Regenwürmer sind Grundnahrungsmittel. Dachse, Steinkäuze, Igel, Amseln ernähren sich und ihre Jungen im Frühjahr fast ausschließlich von Regenwürmern. Sie sind mit 20 Prozent Proteinen und 8 Prozent Fett reich an lebensnotwendigen Stoffen, dabei leicht zu fangen. Das Überleben einer ganzen Reihe von Tierarten hängt daher auch vom Regenwurm ab.
Auch das Leben des Menschen hängt am Wurm und seinem Netzwerk. Regenwürmer schaffen unter Wiesen und Äckern ein Ökosystem, das für die Landwirtschaft so bedeutend ist wie es die Bestäubungsleistungen von Bienen, Hummeln, Fliegen in den oberirdischen Ökosystemen sind. Die unterschiedlichen Regenwurmarten graben Röhren, die einen unter der Bodenoberfläche, die anderen bis zu einem Meter senkrecht in den Boden.
Röhren aus der Eiszeit
Die Tiefgräber, wie der 20 Zentimeter lange Tauwurm, ziehen abgestorbene Blätter und Halme in die Tiefen der Erde, fressen und zersetzen sie dort und sorgen so dafür, dass das nährstoffreiche organische Material tief in den Boden gelangt. Regenwürmer düngen von weit unten. Sie lüften und festigen jedoch auch den Boden.
Die Röhren tapezieren sie mit ihrem Kot, einer Mischung aus verdautem, kompostiertem Grünzeug und Erdpartikelchen. Diese Ton-Humus-Komplexe halten die Röhren feucht und stabil. Der Regenwurmforscher Otto Ehrmann hat sich durch den Boden Baden-Württembergs gewühlt und 100.000 Jahre alte, noch intakte Regenwurmröhren aus der vorletzten Zwischeneiszeit entdeckt.
Ob aus der Eiszeit oder von neulich spielt für den Nutzen der Röhren keine Rolle. Die Regenwürmer legen damit eine natürliche Drainage an. Regen fließt in tiefe Bodenschichten ab, Luft strömt herein, Wurzeln finden einen leichten Weg zu Nährstoffen und Wasser. Die Röhren stabilisieren den Boden und halten das Erdreich locker.
Da Regenwürmer ständig Erde mit ihrer Nahrung aufnehmen, gehen in einem gut verwurmten Boden die obersten 20 Zentimeter innerhalb von zwölf Jahren komplett durch die Regenwürmer. Die Erde kommt versetzt mit verdautem Blattwerk als kneteartiger Ton-Humus-Komplex in Krümelform wieder heraus und düngt und festigt den Boden.
Wichtig wie Korallenriffe
Charles Darwin war so begeistert, dass er 1881 in seinem Buch „Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer“ schrieb: „Man kann wohl bezweifeln, ob es noch viele andere Tiere gibt, welche eine so bedeutungsvolle Rolle in der Geschichte der Erde gespielt haben wie diese niedrig organisierten Geschöpfe.“ Darwin verglich die Bedeutung der Regenwürmer an Land mit der Bedeutung der Korallen und der Riffe im Meer.
Charles Darwin über Regenwürmer
Mittlerweile stehen mehr als die Hälfte der 47 Regenwurmarten in Deutschland auf der Roten Liste des Bundesamts für Naturschutz. Die staatlichen Naturschützer warnen auch Landwirte vor einem herben Verlust der Regenwurmvielfalt in den wirtschaftlich genutzten Böden. Deutsche Ackerstandorte werden „häufig von einer – hinsichtlich Artenzahl, Abundanz und Biomasse – verarmten Regenwurmgemeinschaft besiedelt“.
Je mehr Regenwürmer gesund und munter im Boden graben, desto produktiver ist der Ackerboden. Roswitha Walter predigt den bayerischen Landwirten in Vorträgen und Schriften, was sie für die Würmer tun müssen: wenig pflügen, nicht hacken, nicht mit schweren Maschinen über Acker und Wiese fahren, das ganze Jahr über Pflanzen auf der Fläche lassen, organisch düngen, Humus aufbauen und damit für ausreichend Futter für die Regenwürmer sorgen.
Futter vom Ökobauer
Gut für Regenwürmer sind also all die Dinge, die eher Ökobauern machen, also Landwirte, die auch mal Kleegras zwischensäen und die Regenwürmer füttern. Wo gar keine oder nur sehr wenige Regenwürmer wühlen, erkennen sogar Laien. Auf wurmlosen Äckern steht das Wasser nach einem kräftigen Regen. Oder das Wasser hat die Erde weggespült und bachartige Rinnen in den Acker gegraben.
WissenschaftlerInnen in anderen Bundesländern beneiden Roswitha Walter und ihre KollegInnen um die bayerischen Bodendauerbeobachtungsflächen. Seit Mitte der 1980er Jahre können die bayerischen AgrarforscherInnen Daten erheben und Humusaufbau, Erosion, Regenwürmer, Dürre im Unterboden, Stickstoffkonzentrationen beobachten. Die Flächen sind einzigartig in Deutschland, nur Baden-Württemberg leistet sich eine vergleichbare Zahl von Dauerbeobachtungsflächen in Wäldern.
Roswitha Walter erforscht, ob Regenwürmer die Gährreste aus Biogasanlagen so gut vertragen wie Rindergülle (nicht so gut). Wie es den Regenwürmern im Boden von Kurzumtriebsplantagen geht, also den Monokulturen mit schnell wachsenden Pappeln für die Biogasanlagen („reichhaltiger und vielfältiger Regenwurmbestand“). Und sie verfasst auch für Laien verständliche Schriften wie „Maisanbau regenwurmfreundlich gestalten – auf Bodenruhe und gute Humusversorgung achten“.
Nur eines hat Roswitha Walter noch nie untersucht: Wie sich Pestizide und Fungizide auf Regenwürmer auswirken. Was also zum Beispiel Glyphosat in den Böden von Äckern, Wiesen und Plantagen anrichtet.
Unsicherheitsfaktor Glyphosat
Kein Wissenschaftler hat in Deutschland vor Anfang 2019 in freier, industrieunabhängiger Forschung in den Weiten des Erdreichs je untersucht, wie Glyphosat, Neonicotinoide und andere Agrargifte auf Hornmilben, Tausendfüßler, Springschwänze oder Regenwürmer im Ökosystem Boden wirken.
Landwirte erwerben 30.000 bis 35.000 Tonnen sogenannte Pflanzenschutzmittel im Jahr in Deutschland, versprühen laut Umweltbundesamt 8,8 Kilogramm der unterschiedlichen Agrarpflanzenschutzmittel pro Hektar Anbaufläche. Und niemand weiß, was die Gifte bei Kleinsttieren und Mikroorganismen, bei Bakterien und Pilzen in freier Wildbahn anrichten.
„Plötzlich gibt es Geld“, sagt Ricarda Lehmitz, als Biologin spezialisiert auf Hornmilben, Regenwürmer, Bodentiere. Sie ist Kuratorin der Sammlung Hornmilben am Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz und hat mit Meike Schuppenberg gerade herausgefunden, dass die millimeterkleinen Hornmilben sich über Flüsse verbreiten und neue Lebensräume erschließen.
Die kleinen Tierchen zersetzen auch noch dort die abgestorbenen Pflanzenteile, wo es Regenwürmern mit ihrer empfindlichen Haut schon zu sauer ist. In Fichtenforsten zum Beispiel oder im Auwald. Seit März 2019 hat Ricarda Lehmitz nun auch endlich das Geld, die Auswirkungen von Pestiziden auf die verschiedenen Bodenlebewesen in der Natur zu untersuchen.
Mit Bodenkundlern und Pflanzenbiologinnen aus ganz Deutschland untersucht Lehmitz im Forschungsverbund der Leibniz-Gemeinschaft in Brandenburg und im Rheinland, wie Pestizide von landwirtschaftlichen Gebieten auf die biologische Vielfalt vor allem angrenzender Naturschutzgebiete wirken. Lehmitz macht mit Regenwürmern, Springschwänzen und Hornmilben, was die Insektenfreunde des Entomologischen Vereins Krefeld 30 Jahre lang mit den Insekten der oberirdischen Ökosysteme gemacht haben.
Hingucken, zählen, wiegen. Die Insektenfans hatten seit den 1980er Jahren Käfer, Fliegen, Wespen und was sonst noch mit sechs Beinen unterwegs ist, gefangen, gewogen, bestimmt und 2017 die Öffentlichkeit mit der Nachricht erschreckt, dass die Biomasse der Insekten um 75 Prozent zurückgegangen ist.
Grabaktivität eingestellt
Im Laborversuch wirkt Glyphosat verheerend auf Regenwürmer. Mailin Gaupp-Berghausen von der Universität Wien hat Tauwürmer und den flachgrabenden Aporrectodea caliginosa mit dem glyphosathaltigen Pestizid Roundup besprüht. Der Tauwurm tauchte ab. Drei Wochen nach dem Gifteinsatz stellte Lumbricus t. seine oberirdischen Grabaktivitäten ein und hinterließ deshalb auch keine der wertvollen Bodenkrümel. Der Kosmopolit Aporrectodea c. verminderte seine Fortpflanzung und legte weniger als die Hälfte der Kokons, mit denen Regenwürmer sich fortpflanzen.
Mailin Gaupp-Berghausen zeigt also, dass Glyphosat die Lebensfunktionen und Lebensweisen der beiden Wurmarten im Topf beeinträchtigt. Da die Regenwürmer in dem Laborversuch nach der Glyphosatdusche weniger Laub und Stroh fraßen, blieb das alte organische Material und damit auch die Nährstoffe wie Stickstoff liegen. Der Nitratgehalt am Boden stieg um 1.592 Prozent, der Phosphoranteil um 127 Prozent. „Das weist auf das potenzielle Risiko hin, dass die Nährstoffe in Flüsse, Seen oder das Grundwasser fließen können“, schreibt Gaupp-Berghausen.
Regenwürmer, Hornmilben, Springschwänze, Pilze und die unzähligen anderen kleinen Viecher im Boden sorgen im unermüdlichen Zersetzungsprozess dafür, dass Nährstoffe wie Nitrat, Magnesium, Phosphor aus den abgestorbenen Pflanzen wieder in den Boden gelangen und die nächste Generation der Pflanzen versorgen.
Ohne die Bodentiere bleiben jedoch die Stickstoffverbindungen für Pflanzen unerreichbar. Sie können ihn nicht aufnehmen. Stickstoff ist eine der Grundstoffe pflanzlichen Wachstums neben Licht und Wasser. Bleibt der Stickstoff liegen, weil Pflanzen ihn nicht mit den Wurzeln aufnehmen und in den Zellen binden, entsteht mit Sauerstoff das giftige Nitrat. Der Regen spült die Nitratverbindungen in Flüsse, Seen oder ins Grundwasser. Der menschliche Körper wandelt Nitrat zu Nitrit, das unter anderem den Sauerstofftransport im Blut behindert.
Deutschland hat ein massives Nitratproblem, weil Landwirte zu viel Gülle aus der Massentierhaltung auf Äckern und Wiesen versprühen. Mehrfach hat die EU Deutschland gerügt, verwarnt und aufgefordert, die Nitratgrenzwerte im Grundwasser endlich einzuhalten.
Der Europäische Gerichtshof hat die deutsche Bundesregierung im Juni 2018 verurteilt, den Nitratgehalt im Grundwasser zu senken und bei weiterer Missachtung der Grenzwerte eine Strafe von 850.000 Euro am Tag angedroht. Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) und Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) haben daher ein paar Vorschläge an die EU geschickt, mit der sie das Nitrat-Problem vom Acker schaffen wollen.
Ohne Regenwürmer wird das nichts. Sie verdauen bis zu einem für sie erträglichen Maß auch die Fäkalien aus der Massentierhaltung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers