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Perestroika in Zentralasien

Mosaike und Plattenbau: In Usbekistan und Kirgistan stehen einzigartige Zeugnisse der sowjetischen Moderne. Zugunsten von teuren Neubauprojekten droht das architektonische Erbe jedoch zu verschwinden

Ein Wandbild des Theologen und Mathematikers Alī al-Qūschdschī auf einem sowjetischen Wohnhaus Foto: Richard Waymar/Alamy/maurtius images

Aus Taschkent und Bischkek Philine Bickhardt

Während Kirgistan vor allem mit seiner Landschaft punktet, sind es in Usbekistan die historischen Bauwerke, besonders die Unesco-Weltkulturerbe-Stätten islamischer Architektur, die die Herzen der Tou­ris­t:in­nen höher schlagen lassen. Doch Bischkek und Taschkent haben eine auffällige Gemeinsamkeit: Die sowjetische Moderne, besonders die Ornamente, Mosaike und Wandbilder auf den Plattenhäusern, sind im Stadtbild omnipräsent.

Der Grafikdesigner Aleksander Fedorov, als Kind russischer Eltern in Kasachstan geboren, aufgewachsen in Taschkent, initiierte 2020 das Projekt „Tashkent Modernism“ und dokumentiert seither in Form von Videos auf Instagram regelmäßig den Zustand sowjetischer moderner Architektur in Taschkent. Zuletzt lenkte er Aufmerksamkeit auf ein vom Abriss bedrohtes sowjetisches Mosaik in der Innenstadt und konnte es so vorerst retten.

Grund für die Herausbildung eines eigenen Stils im Usbekistan der 1960er bis 1980er Jahre war eine historische Tragödie: Am 26. April 1966 wurden durch ein Erdbeben die Häuser auf einer Fläche von 10 Quadratkilometern der mehr als 2.000 Jahre alten Stadt fast gänzlich zerstört. Tote gab es erstaunlicherweise nur wenige, 1.710 Be­woh­ne­r:in­nen trugen jedoch Verletzungen davon. 300.000 Menschen wurden obdachlos. In Folge reisten aus der ganzen Sowjetunion Ar­chi­tek­t:in­nen an, um die frei gewordene Fläche mit Häusern zu bebauen, die den seismischen Wellen standhalten können, und die neuen großen Betonformationen und -platten mit Stirnfassaden aus Mosaiken und Ornamenten zu verkleiden; bis heute gilt es als planwirtschaftliches Architektur-Vorzeigeprojekt. Die „Sowjetische Moderne mit östlichem Kolorit“ war geboren.

Der oftmals als monoton herabgewürdigte Plattenbau aus Beton liebäugelt in dieser Stadt mit Mosaiken und Ornamenten, zumeist auch usbekischen Motiven. Diese Kombination aus industriell vorgefertigtem Beton und dekorativen Elementen wie Mosaiken und Ornamenten sei ein Alleinstellungsmerkmal für die Taschkenter Moderne, schreibt Philipp Meuser in seinem „Architekturführer Usbekistan“, der den Begriff der „Seismischen Moderne“ für Taschkent etablierte.

Immer mehr dieser einzigartigen Gebäude wurden jedoch in den letzten Jahren abgerissen. Als kulturelles Erbe, so scheint es, werden die Mosai­ke nicht angesehen, dabei sind sie doch sowjetisch und usbekisch bzw. kirgisisch zugleich. Schuld an der fehlenden Wertschätzung ist jedoch kein erstarkendes Nationalbewusstsein oder postkoloniale Kritik, wie etwa in der Ukraine dieser Tage. Viele Taschkenter würden aus finanziellen Gründen nicht reisen können und demnach nicht den Blick durch den Vergleich mit anderem für das „Eigene“ schärfen können, sagt der Architektur-Aktivist Fedorov. Die Wandbilder der sowjetischen Moderne werden schlicht nicht wertgeschätzt.

Doch langsam, aber sicher erkennen auch staatliche Institutionen den Wert des Taschkenter Architekturerbes: Mitte Oktober lud die „Stiftung für die Entwicklung von Kultur und Kunst“, dem usbekischen Ministerkabinett unterstellt, im nationalen Kunstmuseum internationale For­sche­r:in­nen und Ar­chi­tek­t:in­nen zu einer Konferenz ein. Das Projekt der staatlichen Stiftung trägt mit Tashkent. Modernism XX/XXI“ einen Namen, der dem Projekt Federovs erstaunlich ähnelt. Federov postet seit 2017 seine Plakate öffentlich und präsentierte in diesem Sommer mit Hilfe der Schweizer Botschaft eine multimedia­le Ausstellung zur Taschkenter Moderne. Auch die im April aufgezogene staatliche Instagram-Seite heißt mit „Tashkent Modernism“ genauso wie die des Aktivisten Fedorov. Der benennt eine strukturelle Komponente, warum das architektonische Erbe lange vernachlässigt wurde: Für korrupte Machenschaften rentiere sich Neubau, nicht Restauration.

Nach dem Tod des langjährigen, diktatorisch regierenden usbekischen Präsidenten Islom Karimov löste ihn Shavkat Mirziyoyev 2016 ab, der mit Reformen nachhaltige Veränderungen in Usbekistan bewirkte, etwa die weitgehende Abschaffung der Kinderarbeit auf den Baumwollplantagen und eine verbesserte Trinkwasserversorgung, sodass nunmehr 73 Prozent der Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.

Viele Abrisse wurden gänzlich ohne oder mit zu später Vorwarnung umgesetzt

Doch diese sichtlichen Erfolge trügen über andere Entwicklungen hinweg: So wurde 2016 ein staatlicher Umbau der Infrastruktur initiiert, der Tausende Menschen wohnungslos machte. Dieser Umbau heißt in Usbekistan offiziell „Perestroj­ka“. Seitdem fallen reihenweise Häuser der Abrissbirne zum Opfer: Seit 2016 wurden allein aufgrund von „staatlichen Interessen“ 6.479 Privatwohnungen und -häuser abgerissen. Nicht mit eingerechnet sind die vielen Abrisse aus privatwirtschaftlichem Interesse, die örtliche Politiker genehmigten, obwohl das Oberste Gericht Usbekistans sie in den meisten Fällen für rechtswidrig erklärte. Viele Abrisse wurden gänzlich ohne oder mit zu später Vorwarnung umgesetzt; die meisten Menschen haben zu niedrige oder keine Kompensationen bekommen.

Neugebaut wird im westlichen Stil. Die neuen Business-Skyliner und Wohnkomplexe sind jedoch weder für eine breite Bevölkerung erschwinglich, noch reicht etwa der durchaus beeindruckend in den Himmel hinaufragende, 266,5 Meter hohe Tower im Stadtzentrum Taschkents „Nest One“ ästhetisch an das heran, was die Platten bieten.

Die Nähe zu Russland wird weiterhin seitens des Staats sowohl in Usbekistan als auch in Kirgistan betont – trotz vereinzelter Abgrenzungsversuche in den letzten Jahren. Im Reisebus bei einer russischsprachigen Sightseeingtour etwa wurde die „Eroberung“ Usbekistans durch das Russische Imperium 1860 beschönigend als Beginn einer „neuen Ära“ geframt. Die Frage nach der Beziehung zu Russland stellen sich auch die Kirgisen: Auf dem zentralen Platz in Bischkek wurde 2017 ein Denkmal anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des „freiwilligen Eintritts“ Kirgistans in den „Verbund Russland“ errichtet. Interessant ist hierbei weniger, dass der blutige Charakter der Bürgerkriege in den 1910er und 20er Jahren keine Erwähnung findet. Wirklich infam ist vielmehr die Behauptung des „freiwilligen“ Eintritts angesichts des kolonialen Machtgefüges innerhalb der Sowjetunion, wo ethnische Rus­s:in­nen strukturell begünstigt wurden.

Selbst Plattenbauten schmückt in Taschkent ornamentaler Stuck Foto: Cyrille Gibot/Alamy/mauritius images

Viele junge Us­be­k:in­nen und Kir­gi­s:in­nen sehen trotz der potenziellen Gefahr Russlands für ihre Souveränität in den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg eine Zukunft, sowohl im Sinne von Hochschulbildung als auch der Arbeitsmigration. Bis heute kann man sich visafrei zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken bewegen, was seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einigen russischen und belarusischen Oppositionellen schon die Flucht vor Strafverfolgung ermöglicht hat. Doch dieser Schutzraum geht aufgrund staatlicher Liebeleien mit der russischen Regierung verloren. Sowohl Kasachstan als auch Kirgistan haben 2023 Aktivisten inhaftiert oder an Russland ausgeliefert.

Doch zurück zur Architektur. Laut dem kirgisischen Architekten Meder Achmetov ist die kirgisische sowjetische Moderne im Vergleich zu Usbekistan deutlich weniger dekorativ und ornamental. Neben typischen Mosaiken zu Völkerfreundschaft, Sport- und Kosmos-Motiven gibt es jene, die traditionelle kirgisische Ornamente aufgreifen. Im Umgang mit sowjetischer Architektur macht er auf einen Widerspruch aufmerksam, der auch in Usbekistan zu beobachten ist: Im Allgemeinen gelten sowjetische Gebäude in der Bevölkerung zwar als rückständig und nicht prestigeträchtig. Gleichzeitig loben die Menschen die in der Sowjetzeit errichteten Gebäude, weil sie unter strengeren Bauvorschriften errichtet wurden, insbesondere was seismologische Fragen betrifft. In einem jetzt privatwirtschaftlich organisierten korrupten Umfeld stehen Sicherheitsfragen hintenan, architektonisch ist heute Kitsch im Trend; neoklassizistische Elitehäuser, die alles „Postsowjetische“ überwinden.

Die eigene Geschichte, sie wird vielerorts momentan aus dem öffentlichen Raum ausradiert. In dem 2023 veröffentlichten Buch „Labyrinthe des postkolonialen Diskurses“ machen die kasachischen Au­to­r:in­nen auf Entfremdungserfahrungen aufgrund verschiedener Herrschaftsgefüge aufmerksam: Es begann unter sowjetischer Kolonialherrschaft und streckt sich bis in die Gegenwart, wo Privatwirtschaft und westliche Trends dem Stadtbild ihren Stempel aufdrücken. Die Frage nach dem sowjetischen Architekturerbe, sie muss wohl auch politisch aufgearbeitet wie beantwortet werden.

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