piwik no script img

Gedenken an das Ende NazideutschlandsPutins Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg ist mehr Krieg

Russlands Regierung instrumentalisiert die Erinnerung an den Nationalsozialismus. Auch die deutsche Erinnerungskultur hat blinde Flecken.

Nicht dabei in Torgau: Soldaten marschieren während einer Probe für die Militärparade zum Tag des Sieges in St. Petersburg Foto: Dmitri Lovetsky ap

E inen Tag vor dem russischen Überfall auf die Ukraine stand ich mit einem Schoah-Überlebenden im Fahrstuhl. Er sagte: „Ich hoffe, wir wachen morgen nicht auf und es ist Krieg.“ Das war’s, er sagte Tschüss, wir gingen beide unserer Wege. In der Nacht schlief ich unruhig, am nächsten Morgen war Krieg.

Wie kann und soll an den Zweiten Weltkrieg erinnert werden? Diese Frage stellt sich neu in einer Zeit, in der europäische, ukrainische Städte noch immer von Russland zerbombt werden, russische Soldaten in Absprache mit Verwandten am Telefon plündern, kulturelle Stätten zerstört werden, Schoah-Überlebende sich vor Raketen verstecken müssen.

Wenn sich am 8. Mai das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal jährt, findet die Gedenkveranstaltung im Bundestag ohne die Botschafter Russlands und Belarus’ statt – eine Entscheidung, die in der seit über drei Jahren andauernden politischen Lage nachvollziehbar und notwendig ist.

Die Empörung, besonders auf russischer Seite, ist groß und vorhersehbar: Man sieht sich als Opfer. Die russische Botschaft kündigt an, trotzdem nach Torgau reisen zu wollen – an jenen Ort, an dem US-amerikanische und sowjetische Truppen 1945 an der Elbe aufeinandertrafen.

Bei Gedenkveranstaltungen kommen oft Nachfahren der Ermordeten, der Kämpfer, der Täter zusammen. Unterschiedliche Hintergründe, Erfahrungen, aber einen Konsens braucht es: Was aus dem Krieg gelernt wurde – und was nie wieder geschehen darf. Genau das fehlt.

Der Kult um den Großen Vaterländischen Krieg blendet den Hitler-Stalin-Pakt bewusst aus

Der Kult um den „Großen Vaterländischen Krieg“ – der erst 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion beginnt und den Hitler-Stalin-Pakt bewusst ausblendet – wurde unter Putin ins Absurde gesteigert. Die Erzählung geht ungefähr so: Das russische Volk allein (sic!) hat ein großes Opfer erbracht, um die Welt vom Nazismus zu befreien. Niemand will das anerkennen (sic!), deshalb prügeln wir ihnen das jetzt mit Bomben in ihren Schädel ein.

Putin instrumentalisiert das Gedenken an den Sieg über den Nationalsozialismus, um den eigenen Angriffskrieg zu legitimieren. „De­nazi­fizierung“ wird als propagandistischer Vorwand bemüht, um den Krieg als Fortsetzung des antifaschistischen Kampfs zu tarnen. Eine Verdrehung, die nicht nur die Opfer der NS-Verbrechen beleidigt, sondern auch jene, die heute unter Putins Regime leiden.

Stellen wir uns das mal vor: Eine Veranstaltung, die an die deutschen Kriegsverbrechen erinnert und mit dabei Vertreter eines Re­gimes, das die Ukraine vernichten will, sowie einer Diktatur, die ihre Bevölkerung für Freiheitsforderungen foltert und einsperrt. Klingt wie der Beginn eines sehr schlechten Witzes.

Bis heute fehlt in Deutschland eine breitere Auseinandersetzung mit vielen Kapiteln dieses Kriegs. Viele Nachfolgestaaten der Sowjet­union, deren Bewohner in der Roten Armee kämpften und ebenfalls unter deutscher Besatzung litten, spielen im Gedenken eine kleinere Rolle. Dieses um ihre spezifischen Erfahrungen zu erweitern, ist längst überfällig – für ein ehrlicheres, umfassenderes Erinnern.

Eine Teilnahme russischer Vertreter? Denkbar – aber nur, wenn sie sich glaubhaft vom Angriffskrieg distanzieren, sich gegen ihn engagieren und die Erinnerung nicht instrumentalisieren. Von russischen oder belarussischen Offiziellen ist das aktuell nicht zu erwarten. Es geht ihnen nicht um Gedenken, sondern um Macht, um ihr mörderisches Ego.

Nichts weniger steht heute auf dem Spiel als die Wahrung der historischen Wahrheit. Niemand stellt die Verdienste der sowjetischen Bevölkerung infrage. Doch das Leid russischer Vorfahren darf nicht länger von einem Regime missbraucht werden, das selbst Kriegsverbrechen begeht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Freie Podcasterin und Moderatorin. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber.
Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Ich freue mich auf die überfällige Versöhnung im Osten, die im Westen schon lange erarbeitet wurde.







    Doch Putin begeht ja einen Angriffskrieg nach dem anderen - wir werden wohl noch etwas warten müssen.

  • Besonnener Kommentar. Leider ist die US-Führung milliarden Lichtjahre von solch aufgeklärter Haltung entfernt. Warum will Trump der konkurrierenden Supermacht Russland die Ukraine auf dem Silbertablett servieren? Solche unamerikanischen Umtriebe gab es noch nie!

  • In diesem Bericht verschwiegen wird zur Rolle der Sowjetunion im 2 WK. ist, dass ein Nichtangriffspakt herrschte zwischen der SU und NSDeutschland und dieser Pakt den Sieg über Frankreich etc. erst möglich gemacht hat. Zeitgleich sind die Russen in Polen eingefallen, haben zigtausende Menschen exekutiert. Tymothy Snyder hat in Bloodlands dazu ein tolles Buch geschrieben. Insofern, dieses Narrativ der antifaschistischen SU sehe ich nicht, erst ab 1941. Gemeinsam jedoch mit den Nazis wurde der 2WK begonnen, zur Rechenschaft gezogen wurde diese abgestimmte Verhalten mit Hitler jedoch nie, auch die Massenmorde danach nicht. Insofern gehört auch diese Geschichtsschreibung über Torgau revidiert und ins entsprechende Licht gesetzt.

    • @Stefan Schmitt:

      Steht doch im Artikel:



      "Der Kult um den „Großen Vaterländischen Krieg“ – der erst 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion beginnt und den Hitler-Stalin-Pakt bewusst ausblendet – wurde unter Putin ins Absurde gesteigert."