Gedanken zu Rosch Haschana: Den Moment des Neuanfangs ernst nehmen
Ist es gleich, ob man lebt oder stirbt? Die Weltlage kann einen zu solchen Gefühlen treiben. Und doch siegt am Ende der Gedanke der Verantwortung.

D raußen schien die Sonne. Ungewöhnlich für diese Zeit im September. Diese Tage waren in den vergangenen Jahren grau, regnerisch, melancholisch bis depressiv. Ich fühlte mich furchtbar dramatisch, während ich durch einen Park spazierte; eine Frau klapperte mit einem Schlüssel an einem Bauzaun, als wolle sie daraus ein Lied zimmern. Ein eigensinniger Klangteppich, der mich nicht losließ.
Wochen vorher war ich beim Minigolf. Zwischen bunten Schlägern hörte ich eine Bemerkung: „Schade, dass es die NSDAP nicht mehr gibt.“ Auf Nachfrage hieß es, das sei nur ein Scherz – ein bitterer Kommentar über die Stärke der AfD. Hinterher wurde mir klar, dass mich nicht die Bemerkung selbst erschütterte, sondern dass ich nicht überrascht war, sie im Alltag zu hören. Dass ich solch ein Extrem für möglich halte. Das ist Normalisierung. Ein gesellschaftlicher Ton, in dem Zynismus, Politikverdrossenheit und rechte Sprache wie Nebel über Gesprächen liegen.
Gerade fand Rosch Haschana statt. Das jüdische Neujahrsfest, das erst in meinem Erwachsenwerden eine Rolle spielte, da in meiner sowjetisch-jüdischen Familie alles Jüdische unsichtbar geworden war. Rosch Haschana bedeutet innehalten, neu anfangen, Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen. Ein Fest des Aufbruchs. Und gerade das fühlt sich in diesen Tagen schwer an. Wie soll man an Neuanfänge denken, wenn die Gegenwart von Abgründen geprägt ist?
Ich ertappe mich manchmal dabei, in einen Fatalismus abzurutschen. Nur für einen Moment, ein Flügelschlag. Ich denke dann: Es bringt ja alles nichts, ergeben wir uns dem Schicksal. Dann erinnere ich mich an meinen letzten Besuch in Russland, kurz bevor die Armee die Ukraine überfiel. Kaum jemand ließ sich damals mit dem Impfstoff Sputnik impfen, selbst Ärzte misstrauten der Medizin. Ihre Skepsis verstand ich. Doch ich spürte noch eine andere Haltung: eine greifbare Bedeutungslosigkeit. So, als ob es gleich sei, ob man lebt oder stirbt.
Gnostischer Fatalismus
Im Krieg gegen die Ukraine wurde diese Haltung pervertiert. Nikolai Karpizki, Wissenschaftler und Antikriegsaktivist, nannte das einmal einen gnostischen Fatalismus. Wer sich selbst als bedeutungslos empfindet, erhält plötzlich ein Angebot: Im Krieg kann er alles tun, und alle würden es wertschätzen. Aber um das zu erreichen, muss er bereit sein, zu töten und zu sterben.
Wann immer mein eigenes Gefühl des Fatalismus aufkommt, denke ich daran. Welche Verantwortung ich als Mensch trage, mir selbst gegenüber, aber auch meinen Mitmenschen. Und wie sehr ich hoffe, dass die Gesellschaft erkennt, was es zu verlieren gibt. Dass wir sehen, wofür es sich in einer Demokratie zu kämpfen lohnt. Und dass wir niemals in jene Haltung der Bedeutungslosigkeit abrutschen, die der eigentliche Untergang ist.
In diesen Tagen erschüttern mich Nachrichten wie die Ausladung des jüdischen Publizisten Michel Friedman bei einer Veranstaltung aus Angst vor rechtsextremen Protesten. Es ist nicht nur die Gewalt selbst, sondern das Einknicken, das Schweigen, das zukunftslos wirkt – und zeigt, wie fragil unsere Gegenwart geworden ist.
Vielleicht liegt hier die Aufgabe: inmitten von Unsicherheit und Dunkelheit Verantwortung zu übernehmen. Das Leben hat kein Happy End, nur Anfänge, Enden, Momente. Für die kleinen Geschichten unseres Lebens und das anderer Verantwortung zu übernehmen, wäre ein Anfang. Es macht einen Unterschied, ob wir Haltung zeigen, widersprechen, uns selbst ernst nehmen. Rosch Haschana war in diesem Jahr weniger ein Fest der Leichtigkeit als ein Fest der Verantwortung. Ein stiller Neuanfang. Einer, der sagt: Wir können die Dunkelheit nicht wegreden, aber wir können die Momente ernst nehmen, die uns gegeben sind.
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