Gebeutelte Musikwirtschaft: „Berlin könnte Wandel auslösen“
Olaf Kretschmar hat schon vor zehn Jahren mit der Kampagne „Musik 2020 Berlin“ in die Zukunft geschaut, die als Gegenwart gerade aber trüb ausschaut.
taz: Herr Kretschmar, Sie sind eine Art Hans Dampf in der Berliner Musikwirtschaft, unter anderem Vorstandsvorsitzender der Berlin Music Commission, Mitglied im Jazzbeirat Berlin und Vorsitzender des Bundesverbandes Pop. Von 2010 bis 2012 leiteten Sie die Kampagne „Musik 2020 Berlin“. Ein interessanter Titel. Musik 2020 Berlin – das ist jetzt Drama 2020 Berlin, oder?
Olaf Kretschmar: Ja, die Lage ist im gesamten Livebereich sehr dramatisch, weil es kaum möglich ist, alternative Modelle zu entwickeln. Man kann in anderen Bereichen viel digital machen, Livemusik aber sollte man auch live gemeinsam mit anderen erleben können.
Manche sagen, Clubmusik und Konzerte seien doch nur Freizeitspaß?!
Jetzt in der Krise merken viele Menschen erst, welchen elementaren Stellenwert Kultur für sie hat und wie geradezu existenziell gemeinschaftliches Musikerleben für sie ist, ob in der Oper oder im Technoclub. Musik ist nicht nur Spaß, sondern auch Sinnsuche, Selbstfindung, Emanzipation. Insofern hat Musik eine soziale Bedeutung, manchmal ist sie sogar Soundtrack für eine Jungendbewegung, wie Techno in den 90ern. Unter Leuten zu sein und sich emotional zu verbinden oder auszutauschen gehört zu unserem menschlichen Wesen. Wenn das in Quarantäne gestellt ist, wird die Luft für manche schon sehr dünn. Die Menschen brauchen Musik, um glücklich zu sein.
1962 in Karl-Marx-Stadt geboren, hat Autoschlosser gelernt, studierte von 1984 bis 1989 an der Humboldt-Universität Berlin Philosophie. 1993 gründete er mit Freunden den bald legendären Club Delicious Doughnuts und engagierte sich später übergreifend für die gesamte Berliner Clubszene. Er ist Vorsitzender des Netzwerks Berlin Music Commission eG und Mitinitiator der nationalen Musikwirtschaftskonferenz „Most Wanted: Music“. Jüngst wurde er zudem Vorsitzender des Bundesverbandes Popularmusik.
Und das nicht nur in Berlin, auch in der Brandenburger Fläche, oder?
Es braucht auch im dörflichen Raum, in Klein- und Mittelstädten Orte, wo sich junge Leute treffen und sich über die Liebe und die Welt verständigen können. Es muss in die Köpfe der politischen Entscheidungsträger, dass man genauso in der breiten Fläche Clubkultur braucht, sonst funktioniert sie auch im Hotspot nicht.
Warum nicht?
Die Stars sind doch nicht alle in den großen Metropolen der Welt aufgewachsen. Viele kommen aus der Provinz und haben da ihre ersten künstlerischen Schritte unternommen. Es ist wie im Sport, ohne Breitensport hast du keinen Leistungssport.
Die Ärzte-Bassist Rodrigo Gonzalez sinnierte jüngst über eine mögliche Veränderung der Livemusikszene. Vielleicht würden Bands künftig weniger in den Clubs der Großstädte spielen und wie in den 80ern wieder öfter in der Provinz. Eine interessante Vorstellung?
Durchaus. In gewisser Hinsicht ist sie auch nahe an meiner Ansicht, dass der Hype um die Hotspots außer Acht lässt, wie wichtig die sogenannte Provinz auch für die Prosperität der Hotspots ist. Im Bundesverband Pop engagieren wir uns deshalb dafür, die Strukturen für populäre Musik in der Breite aufzubauen. Übrigens ist es nicht neu, dass Bands das Umland entdecken. Es gibt etliche kleine Festivals auf dem Lande, die von Großstadtkünstlern bespielt werden, wie das Uckermark-Festival, das Dimitri Hegemann initiierte. Und auch Fusion hat mal auf einem Truppenübungsplatz angefangen.
Bundesverband Pop klingt wenig poppig, eher bürokratisch-lobbyistisch. Braucht es so etwas heutzutage?
Die Angst vor allem Uncoolen hat bei den Künstlern und Künstlerinnen dazu geführt, dass sie in Deutschland keine adäquate Interessenvertretung haben. Es gibt keinen Gesamtverband auf Bundesebene. In der jetzigen Krise ist auch deutlich geworden, dass sich die Musiker und Musikerinnen unbedingt mit anderen Branchensegmenten verbinden müssen: mit Labels, Verlagen, Start-ups, Spielstätten. Dafür braucht es Strukturen. Die romantische Attitüde des Nur-Künstlerseins verhindert, dass die Kunstschaffenden eine adäquate Rolle spielen können. Mit der internationalen Musikwirtschaftskonferenz „Most Wanted: Music“, die wir jedes Jahr in Berlin veranstalten, heben wir den Austausch in der Popmusikbranche auf eine professionelle Ebene. Die Krise hat gezeigt, wie überlebenswichtig kulturelle Angebote zur Vernetzung und zum Austausch sind. Nicht nur für junge Leute.
Gibt es zwischen dem Clubleben in Berlin und anderen Städten Deutschlands eigentlich mehr Unterschiede oder mehr Verbindendes?
Das Verbindende überwiegt: die Sehnsucht nach Emanzipation, Selbstfindung und Authentizität, die Sehnsucht nach Begegnung mit Gleichgesinnten, was musikalische Vorstellungen betrifft, aber auch das Leben insgesamt. Ein Club ist der authentische Raum für gemeinschaftliches Musik-Erleben, mit der Betonung auf beidem: Musik erleben, und zwar gemeinschaftlich. Weil dieser Lebensnerv der Clubs quasi abgeschnitten ist, sind sie von der Coronakrise besonders hart getroffen.
Das Berliner Clubleben ist legendär oder muss man ergänzen: war legendär? Könnte Corona das Ende des Berlin-Hypes sein?
Berlin wurde schon oft totgesagt, aber die Berliner haben eine besondere Fähigkeit entwickelt, unaufgeregt zu bleiben und aus üblen Lebenslagen durch Erfindungsreichtum und Gemeinschaftlichkeit neue kulturelle und wirtschaftliche Impulse zu machen. In der Tat ist die Stadt in besonderer Weise gefährdet, weil ihre kreative Szene einen viel höheren Stellenwert hat als in anderen Metropolen. Die Kreativwirtschaft ist hier das, was woanders die Schwerindustrie darstellt. Hier ist aber nicht nur die Musikwirtschaft in allen Segmenten der Wertschöpfungskette exzellent aufgestellt, sondern auch die anderen Teilmärkte, wie Mode, Film, Design. Es gibt eine sehr vitale Start-up-Szene und vor allem viele Kreative, Künstler und hochspezialisierte Freelancer, die in Peer-Production viel agiler agieren als klassische Unternehmen. Berlin muss sich neu aufstellen, diese Potenziale besser vernetzen und mit neuen digitalen Modellen neue kulturelle Praxisformen schaffen. Berlin könnte damit einen Wandel auslösen.
Sie sind wie so viele Berliner Kulturmenschen selbst ein Zugezogener. Warum sind Sie 1984 aus Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, nach Ostberlin gegangen? Weil dort szenemäßig viel mehr los war?
Karl-Marx-Stadt wirkte gegenüber Berlin immer etwas wie die kulturelle B-Seite, weniger mondän, aber rauer und experimenteller. Ich denke an die Künstlergruppe Clara Mosch oder die AG Geige, die musikalisch neue Wege suchte. In Karl-Marx-Stadt waren die alternativen Geister dazu verdammt, sich selbst eine vitale Welt zu schaffen. Und das haben wir auch getan. Nach Berlin gegangen bin ich wegen des Studiums. In der 6. Klasse hatte ich dem Berufsberatungszentrum mitgeteilt, dass ich gedenke, Polarforscher zu werden. Hatten sie aber nicht. Weil ich trotz guter Noten keinen Abiturplatz bekommen hatte, bin ich erst mal Autoschlosser geworden und habe das Abi auf Abendschule nachgeholt, um dann nach Berlin zum Philosophiestudium zu gehen.
Weshalb Philosophie?
Die Frage nach der Dialektik von Freiheit und Ordnung hat mich sehr bewegt. Die Leute sagten immer: Man muss das Leben eben nehmen, wie das Leben eben ist. Warum? Warum machen wir nicht vielmehr alle, worauf wir Lust haben? Und wie kommt die Ordnung in die Welt?
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