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Gaza-TagebuchTote im Café, am Strand, auf der Straße

Vor dem Fenster unserer Autorin wurde ein gut besuchtes Café von einer Bombe getroffen. Es hatte den Menschen eine kurze Auszeit vom Krieg geboten.

Nach dem Bombenangriff der israelischen Armee auf das Cafe Al-Baqa’a in Gaza Foto: Majdi Fathi/imago

M ontag, 30. Juni 15.10 Uhr, Gaza-Stadt. Die Wohnung, in der mein Onkel und seine Familie Zuflucht gefunden haben, nachdem wir aus unserer Heimat in Nordgaza vertrieben wurden, liegt im Westen der Stadt. Durch die Fensterhöhlen – Fensterglas gibt es nicht mehr – haben wir einen atemberaubenden Blick auf das nur wenige Meter entfernte Meer.

Meine beiden Cousins und ich saßen am Esstisch als plötzlich das Gebäude bebte. Türen zersplitterten, Staub füllte die Wohnung. Dann kam eine ohrenbetäubende Explosion. Die Frau meines Onkels schrie. Wir rannten zu den Fenstern, um zu sehen, wo die Bombe eingeschlagen war. Zuerst war es nicht klar zu erkennen. Aber dann sahen wir es – das Al-Baqa’a Café, direkt vor uns, völlig zerstört. Schreie brachen aus. Hunderte von Menschen eilten herbei, um zu helfen.

Das Al-Baqa’a Café war, vor dem Krieg, einer der beliebtesten Orte für Einheimische und Touristen in Gaza. Es war immer voller Besucher und Familien – ich bin oft dort gewesen. Ein wunderschöner Ort hoch über dem Meer, der einen von dem Krieg und all dem Druck entführte und in eine andere Welt voller Frieden und Geborgenheit versetzte.

Die Menschen begannen, die Verwundeten und Toten aus dem Café, vom Strand und von der nahe gelegenen Straße zu bergen. Wir sahen Leichen, Gliedmaßen, Blut und Verletzte – Dutzende und Aberdutzende. Rettungswagen brachten sie in Krankenhäuser, aber auch Privatwagen und Eselskarren.

Menschen suchten am Tatort nach ihren Angehörigen, die im Café gewesen waren. Bei jedem Verletzten, den sie herausbrachten, schaute ich genau auf die Gesichter – aus Angst, es könnte jemand aus meiner Familie sein. Und ich bin sicher, dass alle anderen dasselbe taten. Es dauerte etwa eine Stunde, bis alle Verletzten evakuiert waren. Einige Menschen wurden noch vermisst – vom Meer verschluckt.

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Zwei Stunden nach der Explosion gingen wir zum Tatort, um Fotos zu machen. Sobald wir die Straße betraten, schlug uns der Geruch von Blut entgegen. Im Inneren des Cafés war es überall – auf dem Boden, an den Wänden, auf den Stühlen und Tischen. Körperteile von Opfern und Verwundeten lagen noch immer dort. Ein Frauenschuh – hatte sie ihren Fuß verloren oder war sie gestorben? Daneben lagen die blutbefleckten Kleider eines kleinen Mädchens.

Der Guardian schrieb später, die Bombe habe 230 Kilogramm gewogen – und ihr Abwurf sei ein mögliches Kriegsverbrechen.

Ich stellte mir vor, was die Menschen kurz vor dem Einschlag getan hatten. Freunde, die Witze machten und lachten. Mädchen, die für Fotos posierten, um sie in den sozialen Medien zu posten. Es waren Menschen wie wir, die ein Leben hatten – aber dieses Leben wurde ihnen genommen.

In dieser Nacht konnte nicht schlafen. Ich dachte über alles nach, was um uns herum geschieht – über diejenigen, die an diesem Tag jemanden verloren hatten. Wie haben sie in dieser Nacht geschlafen? Wie schwer ist die Nacht für jemanden, der einen geliebten Menschen verloren hat? Dann erinnere ich mich an den Schmerz, den ich fühlte, als mein Vater getötet wurde – am 22. März dieses Jahres. Ich vermisse ihn jeden Tag.

Seham Tantesh, 23, aus Beit Lahia, ist die Cousine unserer Reporterin Malak Tantesh und wurde insgesamt acht Mal vertrieben.

Internationale Jour­na­lis­t*in­nen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.

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5 Kommentare

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  • BBC schreibt der Männer Außenbereich wurde getroffen (das Cafe hat einen Außenbereich mit Holzstützen & einen Bereich mit Betonsäulen).

    Direkter Link für die Kommentare im früheren Artikel:

    taz.de/Cafe-in-Gaza-Stadt/!6094665/

    " Einige der Ziele: Hisham Ayman Mansour, Kommandeur der nördlichen Qassam-Brigade, Bayan Abu Sultan (Hamas-Influencerin) usw."

    Hamas hat in Telegram Kanälen selbst bestätigt, dass Mansour ein Kommandant (Vater war auch hochrangiger Kommandant der Hamas, Bruder war am 7. Oktober beteiligt) beim Angriff getötet worden ist.

    BBC bestätigt das auch ( www.bbc.com/news/articles/cgeqr73p8wyo ).

    "Twenty-seven-year-old Hisham Ayman Mansour, whose deceased father had been a leading figure in Hamas' military wing, the al-Qassam Brigades, was among those in the men's section"

    Weiter: "two sources telling the BBC he was believed to be there for a 'money drop'".

    Also evtl. war er für Terror Finanzierung oder PR Kauf in dem Cafe, schließlich wars für Social Media Aktivisten bekannt. Auch schreibt BBC plausibel, dass Gerüchten zufolge ein höherrangiger Hamas Kommandant da war, am nächsten Tag verstarb, aber ohne Angabe der Todesart.

    Zu: BA Sultan k.A.

    • @ToSten23:

      Nur weil ein Hamas-Kommandant anwesend ist, darf man ein gut besuchtes Café bombardieren?

    • @ToSten23:

      Ja genau und für einen Mann wirft man eine 230kg Bombe auf ein Café mit einem Haufen Zivilisten drin und draußen! Mindestens 40 Menschen sind dort getötet worden auch etliche Kinder und über 70 verletzt, darunter welche deren Gliedmaßen amputiert werden mussten. Bei der katastrophalen medizinischen Versorgung und der enormen Infektionsrate von Wunden ist nicht auszuschließen das noch mehr sterben werden. Und dann erzählt die IDF was davon das man alles versucht hat Zivilisten zu schützen? Ehrlich jetzt?



      Das Bayan Abu Sultan Hamas Influencerin gewesen sein soll, halte ich für eine Behauptung ihrerseits oder vermutlich der IDF. Sie wird überall nur als Journalistin bezeichnet. Sofern sie also für die Anschuldigung keine verifizierten Beweise haben, wäre ich angesichts der Zahl von über 200 getöteten Journalisten in Gaza etwas vorsichtiger mit solchen Begriffen. www.abc.net.au/new...urnalist/105480502

  • Ich kann nur sagen: " Mein Mitgefühl, ich teile Ihren Schmerz."

  • Mein herz oder die Kleinteile die davon noch übrig sind, zerreisst es in 1000 stücke