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Gastbeitrag von Linken-Chefin KippingFlüchtlinge, dem Amt ausgeliefert

„Das Staatsversagen ist nicht erkennbar, denn die Freiwilligen gleichen es aus“ – über die Arbeit der Helfer vor dem Lageso in Berlin.

Warten und frieren: Flüchtlinge vor dem Lageso in der Turmstraße in Berlin. Foto: dpa

Bangladesch, Türkei, China, die Etiketten der Kinderbekleidung, die ich nach Größen sortieren soll, haben eine weite Reise hinter sich und dabei viele Grenzen überschritten. Eine halbe Stunde später helfe ich Menschen beim Anprobieren, die eine ebenso weite Reise hinter sich haben. Für sie sind die überwundenen Grenzen, anders als für die T-Shirts und Pullover, kräftezehrende Hürden. Vielen sieht man die Strapazen noch an. Sie alle warten am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) auf ihre Registrierung oder sind gerade registriert worden.

Wartende werden mit warmen Getränken, mit Hygieneartikeln und Informationen versorgt. Im Nebengebäude behandeln überwiegend ehrenamtliche Ärzt*innen Krankheiten. Nicht zuletzt solche, die sich Geflüchtete durch die ewigen Wartezeiten vor dem Lageso zugezogen haben. Hebammen kümmern sich um werdende Mütter.

Ich habe eine Schicht bei den Freiwilligen übernommen, die sich hier um so ziemlich alles kümmern. Schon lange wollte ich einmal eintauchen in die Arbeit der Freiwilligen und meinen bescheidenen praktischen Beitrag zur Solidarität mit Geflüchteten leisten – Ende Oktober ist es endlich so weit.

Mit fünf anderen helfe ich bei der Ausgabe und Sortierung von gespendeter Kleidung, die dem Wetter angemessen ist. Nacheinander gehen die Geflüchteten durch den Raum, dürfen sich Dinge, die sie benötigen, selbst auswählen. Wir helfen aussuchen und einschätzen, was im beginnenden Winter insbesondere die durch den Raum wuselnden Kinder halbwegs warm halten soll.

Verständigungshilfe

Andere Freiwillige besorgen Kinderwägen. Die sind Mangelware, viele Familien müssen ihre Kinder den ganzen Tag tragen – und immer wieder wird nach Dolmetscher*innen gerufen. Arabisch, Farsi, Bosnisch, ganz oft braucht es Verständigungshilfe. Fast immer findet sie sich nach kurzem Warten.

1978 in Dresden geboren, seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages für Die Linke, seit 2012 gemeinsam mit Bernd ­Riexinger Parteivorsitzende. Ehe sie in den Bundestag einzog, saß sie von 1999 bis 2005 für die PDS im Landtag von Sachsen.

Durch die Eröffnung einer Zweigstelle ist die Lage am Lageso auf den ersten Blick nicht mehr so katastrophal wie noch vor einigen Wochen. Tausende Leute standen manchmal tagelang im Regen auf dem schlammigen Vorplatz. Übergriffe durch Security-Mitarbeiter beschäftigten erst jüngst das Abgeordnetenhaus. Heute sind immer noch einige hundert Menschen auf dem Platz, aber immerhin gibt es ein paar Zelte, die Schutz bieten.

Auf den zweiten Blick fällt auf, was sich alles nicht verändert hat. Ich schwanke daher zwischen dem Respekt vor der Leistung der Freiwilligen und der Fassungslosigkeit darüber, wie die Freiwilligen derartig alleingelassen werden und Arbeiten übernehmen, die sonst Menschen ausüben, die dafür jahrelang ausgebildet wurden und bezahlt werden müssten.

Nicht, dass die Helfenden nicht professionell arbeiten würden. Im Gegenteil. Nicht nur die Logistik ist beeindruckend. Das Staatsversagen ist nicht erkennbar, denn die Freiwilligen gleichen es aus. Wie schon bei meinem Besuch in Heidenau und in der Dresdner Zeltstadt: Den ganzen Tag höre ich von keiner/m der Unterstützer*innen ein harsches Wort, auch nicht in stressigen Situationen. Stattdessen ein sorgsamer Umgang miteinander und mit den Angekommenen. Immer wieder wird man gefragt, wie es einem geht. Ob man eine Pause oder eine Erfrischung brauche.

Manche der Geflüchteten sind nach einigen Tagen selbst zu Freiwilligen geworden. Sie dolmetschen, ordnen und packen mit an. Mehr als ein Namensschild an der Jacke und ein Kürzel, welche Sprachen gesprochen werden, braucht es nicht, um sich in die UnterstützerInnenstrukturen einzufügen.

Wie wenig selbstverständlich dieser sorgsame Umgang miteinander ist, wird mir noch einmal in der Pause klar. Maria (Name geändert), die mit mir in der Kleiderkammer arbeitet, spricht davon, wo sich das Fehlen professioneller Strukturen für sie bemerkbar macht. Neben der organisatorischen Arbeit ist sie mit Schicksalen von Menschen konfrontiert, die einen selbst dann überfordern können, wenn man sie nicht selbst erlebt hat, sondern sie eben nur aus Erzählungen erfährt.

Unter den Ankommenden sind Menschen, die Kinder, Partner und Freund*innen im Mittelmeer ertrinken sahen. Es sind Menschen unter ihnen, die Gewalt erfahren und erlebt haben, die man sich in Deutschland kaum vorstellen kann. Und es sind Menschen, die in einer Situation ankommen, in der sie halbwegs sicher sind, aber noch lange nicht souveräne Gestalter*innen ihres Lebens und ihres Alltags sind. Wartende, deren Leben von der Wartenummernanzeige des Lageso strukturiert wird. Diese Fluchtschicksale und das Ausgeliefertsein beschäftigen und belasten auch die Unterstützenden. Sie nehmen dies mit nach Hause.

In stressigen Situationen bleibt wenig Zeit, Missverständnisse auszuräumen. Maria, die selbst eine Mediationsausbildung hat, meint: Es kann nicht sein, dass es bei so einer wichtigen Arbeit keine professionelle Supervision gibt. Verantwortungslos findet sie das, gegenüber den Freiwilligen, aber auch gegenüber den Geflüchteten. Recht hat sie.

Kein akzeptabler Zustand

Auch mehrere Monate nachdem die angebliche „Flüchtlingskrise“ ausgerufen worden ist, ist die oft beschworene Überforderung der Unterstützer*innen nicht eingetreten. Die Lücken, die das beginnende Semester reißt, weil viele Studierende wieder in die Seminare müssen, schließen andere. Anders geht es auch nicht, ich will mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie nicht da wären. Ein akzeptabler Zustand ist das nicht.

Die Freiwilligen wollen eigentlich das tun, was ein Staat in dem Maße nicht leisten kann: persönliche Unterstützung, den Ankommenden helfen. Stattdessen müssen sie sich damit beschäftigen, das Existenznotwendige bereitzustellen.

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15 Kommentare

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  • Es ist sehr wichtig, dass Politiker vor Ort die Lage selber sehen und auch mithelfen. Das wird in der Bevölkerung sehr geschätzt.

     

    So können Politiker sich davon überzeugen, dass die Helfer niemals müde werden und die Hilfsbereitschaft bei Deutschem Volke bleibt bestehen so lange es Grundgesetz geben wird. Und Grundgesetz wird in Deutschland immer gelten, da schon der Artikel 1 und der Artikel 20 durch die Ewigkeitsklausel im Grundgesetz in der Gegenwart und Zukunft Deutschlands verewigt sind.

  • Danke für den Beitrag!

     

    Können Sie auch etwas zum Unterschied zwischen ehrenamtlichen, "ganz" Freiwilligen und den Einsatz von "professionellen" Ehrenamtlichen, die in den bekannten großen Strukturen, involviert sind, sagen? (Z.B. DRK)

     

    Bieten wenigstens die Betriebe der Wohlfahrtsstrukturen ihren ausgebildeten Ehrenamtlichen Supervision etc. an?

  • Ja, natürlich ist das Staatsversagen für jemanden nicht erkennbar, der es bislang noch nicht wahrgenommen hat.

    Das ist nunmal so bei sozialen Arbeiten. Die bringen keinen unmittelbaren Profit, es sei denn die Freiwilligen wollen ihre zukünftigen Therapeuten privat bezahlen.

     

    Das ist aber überall so. Sie traumatisierten Flüchtlingskinder sind ebenso wie traumatisierte autochtone Jugendliche erst in ein paar Jahren ein Problem. So lange stört es niemanden und später auch nur, wenn sowas mal wieder in einer kurzen Zeit als öffentliches Interesse durch die Medien getrieben wird.Bis dahin sind die letzten noch engagierten professionellen im sozialen Bereich tätigen Menschen auch vergrault und man kommt wieder auf einfache Lösungen wie Einsperren und Abschieben.

  • Staatsversagen? Der Balkanstaat Berlin versagt. Von der taz umfänglich immer wieder berichtet. Das gleichfalls völlig verarmte Wuppertal versagt jedenfalls nicht. Bitte die Verantwortlichen benennen.

  • Nicht alles gleichen die Freiwilligen aus. "Das Staatsversagen" ist auch deswegen "nicht erkennbar", weil es zum überwiegenden Teil hinter verschlossenen Türen stattfindet. Da, wo Verwaltungsprofis aus Individuen, denen in Winterjacken geholfen wird, nackte Zahlen machen und schwarze Buchstaben vor weißem Hintergrund.

     

    DER Staat setzt Prioritäten. Und weil er das schon immer so gemacht hat (nicht nur in Deutschland, da aber immer schon besonders intensiv), bekommen nicht die Individuen Priorität vom Staat, sondern die Zahlen und die Fakten.

     

    Die "persönliche Unterstützung" der Ankommenden, der "sorgsame Umgang" mit ihnen, haben für Verwaltungen nie Priorität gehabt. Im Grunde ist das auch ganz richtig so. Wo Sympathie sein darf und soll, da ist die Aversion schließlich nicht weit. Das "Existenznotwendige" ist allerdings (zumindest theoretisch) für jeden Menschen gleich. Deswegen war seine Bereitstellung bislang auch Aufgabe von Behörden.

     

    Leider-Gott-sei-Dank sind staatliche Strukturen nicht besonders flexibel. Sie halten schon was aus, ohne sofort zu kollabieren. Nur ist das manchmal auch ein mittleres Problem. Wenn z.B. "urplötzlich" (also von einem Jahr aufs andere) ein Drittel mehr Leute einen bestimmten Antrag stellen, dann ist das für Politiker, Medien und Konsumenten gleich nicht viel weniger als eine "Katastrophe". Es stehen ja noch viel mehr Leute in der Schlange. Wie viele, weiß man gar nicht so genau, und das ist wohl das aller, aller schlimmste an der ganzen Sache: Man kennt die Zahl, die Fakten nicht, die das Problem GENAU beschreiben und weiß auch nicht, wie problematisch es noch werden kann.

     

    Apropos schlimm: Im Text ist zwar von den "Gestalter*innen" eine Rede, aber auch von "Wartende[n]". Woran an sieht: Im Warte-Stand sind Menschen immer schon ein wenig gleicher gewesen. Bei den Gestalter*innen gab und gibt es (kleine, feine) Unterschiede.

  • Staatsversagen: Bei der Flüchtlingskrise handelt sich um eine sehr plötzliche Entwicklung. Vor einigen Monaten war in der TAZ zu lesen, dass es in Deutschland gut 45.000 Erstaufnahmeplätze gäbe, dass jedoch allein im Juni 33.000 Aufnahmeanträge gestellt wurden (http://taz.de/!5220006/). Heute haben wir wöchentlich mit etwa doppelt so vielen Menschen oder sogar mehr zu tun. Ich erinnere mich gut, dass ein TAZ-Forist schrieb, Behauptungen eines Foristen, es würden dieses Jahr 400.000 und mit dem darauf folgenden Nachzug Millionen Flüchtlinge in D. ankommen, seien sarrazinische ergo rechte Propaganda und an Zynismus kaum zu überbieten (ebd. siehe Kommentare von Seeräuberjens und Kurt-Horst Dolch). Inzwischen sind auch ohne Familiennachzug über eine Million Flüchtlinge in Deutschland angekommen.

    Die Flüchtlingskrise in ihrer heutigen Form war also spätestens im August 2015 eskaliert, zurückhaltende statistische Berechnungen wurden jedoch von - ich sage mal - "linken Foristen" als rechte Propaganda abgetan. Die Parteimitglieder der Linken haben sich ebenfalls sehr zurückgehalten! Jetzt nachzutreten, das ist zynisch! Stattdessen müssen unbürokratische Lösungen in geordnete Bahnen gelenkt werden. Z.B. sollten freiwillige Helfer (von denen zb. die zahlreichen Studenten ohnehin nicht mit Geld gesegnet sind) finanziell entlohnt werden - selbst wenn dies nur in Form von Steuererleichterungen, Gutscheinen, Essensmarken oder Arbeitszeugnissen geschieht.

    Also bitte: Konstruktive Lösungen anstatt Häme!

    • @babakuk:

      Danke für die Erinnerung, hatte andere Diskussionen noch in Erinnerung, diese aber nicht mehr. Wenige Wochen später rückte das Innenministerium raus damit, daß es wohl 800.000 werden könnten dieses Jahr ...

       

      Wir haben ernste Probleme, ich halte die aber für stemmbar. Allerdings nur, wenn man drüber redet.

       

      Inzwischen haben wir immer weniger Flüchtlinge aus dem Balkan, von denen ein großer Teil wieder abgeschoben werden würde, Schwerpunkt sind jetzt Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan. Bislang dieses Jahr 400.000. Die werden bleiben. Und über Familienzusammenführung neue Menschen reinholen, die quasi jetzt schon fest gebucht sind für nächstes Jahr. Dann ist noch kein Neuer da.

       

      Es ging ziemlich plötzlich. Daß es an allen Ecken und Enden derzeit knirscht, verständlich. Und auch noch knirschen will, wenn Deutsch- und Integrationskurse angeboten, die Kinder beschult werden wollen ... Die schaffen uns zwar auch, aber wir schaffen das.

       

      Balkanstaaten allerdings wie Berlin, die diese Menschen völlig alleine lassen, können wir uns nicht mehr leisten. Wenn die selber unfähig sind, sollen sie den anderen Ländern, die das können, wenigstens das Geld rüberwachsen lassen.

    • @babakuk:

      Oh ja, Staatsversagen.

      Ich habe von Ende 2013 bis Anfang 2015 ehrenamtlich Deutschunterricht in einer Berliner Erstaufnahmeeinrichtung gegeben, und auch damals war die Situation schon so, dass viele notwendige Dinge von Freiwilligen unbezahlt geleistet wurden und die Geflüchteten mit vielem alleingelassen wurden. Auch damals war die Situation am LaGeSo nicht schön. Und damals schon war abzusehen, daß der Krieg in Syrien nicht plötzlich in ein paar Monaten endet, sondern dass eher mehr als weniger Menschen hierher kommen werden.

      Die Zahlen der nach Deutschland kommenden Geflüchteten sind auch nicht von einem Tag auf den anderen angestiegen, sondern über einen langen Zeitraum - wobei sie über Jahre deutlich unter den Zahlen aus den 90ern lag.

      Unser Staat hätte sich also bequem darauf vorbereiten können, wieder mehr Menschen aufzunehmen (so wie damals). Das ist nicht geschehen. Ich nenne das Staatsversagen.

    • @babakuk:

      "Staatsversagen", halte ich auch für überzogen, doch es gibt eine spürbare Zurückhaltung staatlicherseits, wie Sie durch fehlenden finanziellen Ausgleich etc. schon bemerkten. Mich wundert, dass der sogenannte 2. Arbeitsmarkt dafür nicht abgefragt wird oder Flüchtlinge nicht staatlich koordiniert eingebunden werden. Von derartigen Bemühungen habe ich noch nicht viel gehört. Fehlende Supervision- das war schon das richtige Stichwort.

      • @lions:

        Ihr vorschlag ist zu pragmatisch. Vielleicht sogar schon zu weit rechts, glaubt man der position einiger medien.http://taz.de/Kolumne-Macht/!5227596/

        • @Demokrat:

          Ich verstehe, muss natürlich auf Freiwilligen-Basis sein. Zwangsverpflichtungen von Langezeitarbeitslosen liefen dem Zweck entgegen. Was ich mir dazu vorstellen kann, ist eine Entlohnung der "Rekrutierten", die sich an den ABM- Maßnahmen der 90iger orientiert, also kein Eurojob.

  • Positiv belegte begriffe (Helfer*innen) immer mit *. Negativ belegte Begriffer(Security-Miarbeiter) immer ohne *.

    Inhaltlich ist der Artikel o.k., aber in gewisser weise doch systematisch geschlechterdiskriminierend.

    • 8G
      889 (Profil gelöscht)
      @Demokrat:

      Wenn dort nur männliche "Security"-Mitarbeiter sind, darf man das auch benennen.

      • @889 (Profil gelöscht):

        es sind nicht nur männliche Securities - selbst wenn die Frauen beim Sicherheitspersonal eine Minderheit darstellen ;)

        • @babakuk:

          Dann wissen Sie von zu Hause aus es wohl besser als Frau Kipping, die vor Ort war.