Gasag-Kunstpreis für Mariechen Danz: Für Augen und Ohren, Bauchhirn und Kopfhirn
In Mariechen Danz’ Körperbildern spiegeln sich Wissensordnungen. Ihre Ausstellung in der Berlinischen Galerie funktioniert wie eine begehbare Karte.
Lange Zeit wurde er unterschätzt. Man sah nicht viel mehr in ihm als einen langen Muskelschlauch im Verdauungsapparat. Dass der Darm jedoch nicht nur bei Verarbeitung, Transport und Ausscheidung von Nahrungsmitteln notwendige Aufgaben übernimmt, sondern dessen Rolle für das Gesamtwohlbefinden des Menschen weit darüber hinausgeht, wird erst seit ein paar Jahren breit diskutiert.
Etwa 70 Prozent der körpereigenen Abwehrzellen liegen im Darm. Billionen von Bakterien hausen dort und wehren Krankheitserreger aller Art ab, was ihn für das Immunsystem zur zentralen Instanz macht. Als „zweites Gehirn“ wird er bisweilen bezeichnet, wegen seines umfangreichen Nervensystems, wegen der Verbindungen zwischen Darm und Gehirn, durch welche sich die beiden Organe in ständigem Austausch befinden, und wegen der Bakterien im Darm, die Neurobotenstoffe produzieren, die sich wiederum auf Stimmung, Gefühlsleben und Verhalten auswirken.
Bauchhirn und Kopfhirn, in der Kunst von Mariechen Danz liegen sie nah beieinander. Sie stehen sich als Skulpturen gegenüber, treffen sich auf Bildschirmen und Ziegelsteinen. Fossilienartig abgegossen aus Kunstharz, abgeformt aus Beton oder anderem Material gehören Organe jedweder Art – nur die sexuellen lässt sie bislang aus – seit Langem zum skulpturalen Vokabular der Künstlerin. Originalgetreu beziehungsweis so originalgetreu, wie es dem jeweiligen Forschungsstand entspricht, bildet sie diese nach, nach Lehrmodellen aus der Medizin. Oder sie benutzt selbige physisch als Formgeber, indem sie diese in Ton oder Baustoffe drückt.
Wissenssyteme und ihre Veränderung
Körperwissen und Anatomie, Modi und Modelle menschlicher Erkenntnis sind die großen Themen der deutsch-irischen Künstlerin (*1980). Wissenssysteme und wie sich diese verändern lassen, interessieren sie, Forschungs- und Medizingeschichte, Menschen- und Körperbilder und für was diese stehen.
Ausgezeichnet passt sie damit in die Ausrichtung des Gasag-Kunstpreis, den sie in diesem Jahr erhielt und der seit 2010 alle zwei Jahre junge Künstler*innen ehrt, deren Kunst sich an der Schnittstelle zu Wissenschaft und Technik verorten lässt. Vor zwei Jahren hätte die litauische Künstlerin Emilija Škarnulytė ihn bekommen sollen. Diese lehnte aber kurzfristig ab, aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, um auf die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energielieferungen aufmerksam zu machen.
Danz ist nun die erste Künstlerin, die nach Marc Bauer, Julian Charrière, Andreas Greiner, Nik Nowak und Tue Greenfort mit dem Preis ausgezeichnet wurde. Nur beim ersten Mal, 2010, ging er auch an eine Frau, an Susanne Kriemann. An der Zeit war es, aber nicht nur deshalb lohnt sich der Besuch ihrer Ausstellung in der Berlinischen Galerie, die mit dem Preis verbunden ist.
Mariechen Danz: „Edge Out“, Berlinische Galerie, bis 31. März 2025
In einem mächtigen, tunnelartigen Raum dort führt Danz neue und ältere Arbeiten zusammen zu einer Art begehbaren Kartografie. Genauer gesagt hat sie den Raum einer faltbaren Landkarte nachempfunden. So sind auch die Fußspuren auf den Wänden zu verstehen, die diese als weitere Bodenflächen markieren und die unterschiedlichen Installationen miteinander verbinden. Hin und her, quer durch die Ausstellung getrieben wird man zudem von den Videos, die auf einem breiten und zwei transparenten, in den Raum ragenden Bildschirmen laufen.
Modulare Systeme
Alles ist miteinander verbunden, baut aufeinander auf – könnte aber auch ganz anders zusammengesetzt werden. Danz „Body Bricks“ etwa, die für die 16. Istanbul Biennale entstanden. Oder ihr „Modular Glyphic System: Manual Organ Imprint“ – quadratische Betonplatten, die sie 2019 in einem Workshop für Kinder im Rahmen der Gruppenausstellung „And Berlin will always need you“ im Gropius Bau bearbeiten ließ. In einer weiteren Serie arbeitet die Künstlerin mit Aluminiumplatten, wie sie in der Tech-Produktion für Datentransfer oder Lüftungssysteme benutzt werden, bedruckt diese wiederum mit historischen Weltkarten oder anatomischen Zeichnungen.
Körper, so suggeriert Danz mit all dem, sind Teil von Wissensordnungen, diese wiederum Spiegel der Verhältnisse ihrer Zeit. Die Perspektive entscheidet und auch sie ist veränderbar. Darauf verweisen auch die vielen Schatten in der Ausstellung, von denen manche echt, andere nur aufgemalt sind.
So komplex das alles klingen mag, so unmittelbar wirkt Danz Kunst jedoch auf Augen, Ohren und die Assoziationsmaschine im Kopf ein. Nicht verpassen sollte man in jedem Fall den Blick von oben, vom Balkon des ersten Stocks aus, auf die Ausstellung, die von dort wie eine Mischung aus Versuchsanordnung und archäologischer Ausgrabungsstätte aussieht.
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