GEWALT GEGEN FRAUEN MUSS ZUM THEMA DER STAATSCHEFS WERDEN: Geheiligte Bräuche zählen nicht
Wann immer uns Nachrichten über Morde und Vergewaltigungen von Frauen erreichen, wie beim jüngsten Bericht von Amnesty International, mischt sich in den Zorn ein Gefühl der Vergeblichkeit. Sollen wir uns einmischen, wenn die Untaten sich nicht vor unserer Haustür ereignen, wenn die männlichen Täter aus Motiven handeln, die unseren Wertvorstellungen fremd sind?
Es gibt eine allzu bequeme Theorie, um mit dem Schrecken fertig zu werden. Sie entstammt der Gedankenwelt des Kontextualismus. Folgt man der weit verbreiteten linken Version dieser Theorie, so stellt sich die Einmischung in Menschenrechtsfragen eigentlich als ein Akt neokolonialer „weißer“ Intervention dar und als bloßer Vorwand, um Länder in der Dritten Welt ideologisch wie politisch zu beherrschen. Erst recht gelte dies für Praktiken des männlichen Terrors, die tief in der Alltagskultur verankert seien und nur kraft eines kollektiven Emanzipationsprozesses in diesen Ländern selbst zu beseitigen seien.
Was in diesen Argumentationen in der Regel fehlt, ist die Stimme der Betroffenen, also hier der gequälten Frauen. Hat man je gehört, dass die Opfer ihre Qualen freudig ertragen hätten, weil sie mit geheiligten Bräuchen übereinstimmen – und war je zu lesen, die Opfer hätten sich die Einmischung verbeten, weil diese die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates betreffen? Und ist es nicht so, dass das Studium der Weltreligionen und -kulturen einen gemeinsamen humanen, menschenrechtlichen Kern zutage fördert?
Adressaten des Protests und der Intervention müssten nicht in erster Linie die männlichen Familienmitglieder, Clans oder örtlichen Gewaltinhaber sein, die verbrecherisch handeln – der Angriff muss sich gegen die zentralen Machteliten richten, deren Herrschaft durch Duldung, ja durch Förderung der Gewalt gegen Frauen stabilisiert wird. Statt eines kulturalistischen Blickwinkels sind die allgemeinen, menschenrechtlichen Normen des Völkerrechts gefragt, und zwar auch in Staaten wie Saudi-Arabien, die die Menschenrechtskodifikationen nicht ratifiziert haben.
Gerade hier aber liegt das Problem. Wenn scheinbar pragmatische Gesichtspunkte – die Saudis sind schließlich unsere Verbündeten – die Reaktion der westlichen Regierungen auf die Gewalt gegen Frauen bestimmen, dann löst sich jede Möglichkeit auf, die universalistische Verteidigung der Menschenrechte zu rechtfertigen. Ist das nur ein Problem des Hauptverbündeten USA und gilt auch hier: „Es steht uns nicht zu, die Amerikaner zu kritisieren“? Oder müssten die Menschenrechtschampions in unserer Regierung nicht selbst aktiv werden? CHRISTIAN SEMLER
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