GEW-Landeschef zum Schulstart: „Das können wir uns nicht leisten“
In Niedersachsen fehlen zum Schulstart hunderte Lehrer:innen. Stefan Störmer von der GEW warnt vor einer weiteren Überlastung der Lehrkräfte.
taz: Herr Störmer, nach Angaben des Bildungsministeriums sind zum Schulstart in Niedersachsen am Donnerstag mehrere hundert Stellen unbesetzt. Sie schätzen die Zahl der fehlenden Lehrkräfte sogar auf 8.000. Rechnet sich die Landesregierung den Personalmangel schön – oder wie kommen Sie auf so unterschiedliche Zahlen?
Stefan Störmer: Der Personalmangel wird seit Jahrzehnten schöngerechnet. Vor ein paar Jahren haben wir zusammen mit der Universität Göttingen eine Arbeitszeitstudie durchgeführt und festgestellt, dass die Lehrkräfte in Niedersachsen deutlich zu viel arbeiten. Eine Arbeitskommission im Kultusministerium hat das übrigens bestätigt und eine Reform der Arbeitszeitverordnung vorgeschlagen. Legt man diese Daten zugrunde, kommt man auf die fehlenden 8.000 Lehrkräfte. Dazu fehlen noch 3.000 Fachkräfte aus dem pädagogischen und therapeutischen Bereich sowie der Schulsozialarbeit.
Stefan Störmer,
55 Jahre, ist Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Niedersachsen. Der ausgebildete Gymnasiallehrer für Deutsch und Biologie ist seit 2001 in verschiedenen Funktionen für die GEW aktiv. Seit 2015 ist Störmer Mitglied der SPD.
Bildungsministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) musste im vergangenen Schuljahr die schlechteste Unterrichtsversorgung seit Beginn der Aufzeichnungen vor 20 Jahren hinnehmen. Wie wirkt sich der Personalmangel auf die Unterrichtsqualität aus?
Wenn Personal fehlt, verteilt sich die Arbeit auf weniger Schultern. Das führt – wenn man keine Abstriche bei den Aufgaben machen möchte – zu einer enormen Zusatzbelastung. Wir beobachten schon seit Jahren, dass diese Belastung sehr hoch ist. Wenn sie noch weiter ansteigt, werden sich potenzielle Lehrkräfte zunehmend die Frage stellen, ob sie diesen Beruf noch ergreifen möchten. Wir beobachten, dass die Zahlen der Lehramtsanwärter:innen aktuell bereits zurückgehen.
Am heutigen Mittwoch verkündet die Bildungsministerin, wie sie gegen den Personalmangel vorgehen möchte. Bekannt ist, dass sie unter anderem die Hürden beim Quereinstieg abbauen und Einfachlehrkräfte leichter anerkennen möchte. Was halten Sie davon?
Die Maßnahmen sind in der jetzigen Situation sicher alle angezeigt, wir haben aber Zweifel an der Wirksamkeit. Nehmen Sie den Quereinstieg. Das sind Personen, die auch auf dem freien Arbeitsmarkt Jobs finden und nicht darauf angewiesen sind, an die Schulen zu gehen. Zum Teil werden sie woanders auch besser bezahlt. Dieser Pool ist nach meiner Auffassung ziemlich abgegrast. Der Anteil der Quereinsteiger:innen bei den Neueinstellungen betrug zuletzt auch nur 7 Prozent, also nicht gerade viel.
Was bleibt also? Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat Anfang der Woche noch den freiwilligen Einsatz pensionierter Lehrkräfte ins Spiel gebracht. Wie realistisch finden Sie den Vorschlag?
Wir wissen, dass drei Viertel der Lehrkräfte schon vor Eintritt ins Pensionsalter ausscheiden. Oft aus gesundheitlichen Gründen. Insofern kann ich mir schwer vorstellen, dass die Zahl der pensionierten Lehrkräfte, die wieder freiwillig an die Schulen zurückkommen, sehr groß sein kann. Man muss aber auch festhalten, dass die jetzige Landesregierung nicht allein die Schuld am dramatischen Personalmangel trägt. Das haben mehrere Landesregierungen vorher mit verschuldet. Es ist eine Fehlerkette über 15, 20 Jahre.
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission hat den Ministerien Anfang des Jahres empfohlen, in der akuten Personalkrise die hohe Teilzeitquote bei Lehrkräften zu senken.
Die Teilzeitquote senkt man nicht durch Anordnung. Sondern indem man die Kolleg:innen in die Lage versetzt, das Arbeitspensum bewältigen zu können. Bei der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission klang es so, als ob das per Dekret verordnet werden könnte. Das wird kontraproduktiv sein. Die meisten Lehrkräfte gehen ja nicht in Teilzeit, weil sie Teilzeit arbeiten wollen, sondern weil sie sonst ihren Job nicht schaffen. Kolleg:innen, die reduzieren, sagen uns: Wenn ich Vollzeit arbeite, kann ich meinem Anspruch nicht gerecht werden. Statt über weitere Belastungen nachzudenken, muss die Politik den Beruf wieder attraktiver machen.
Die sinkende Attraktivität des Berufs sieht man auch an der Statistik. In Niedersachsen ist die Zahl der fertigen Referendar:innen zwischen 2012 und 2022 von 3.151 auf 2.373 zusammengeschmolzen. Was ist Ihre Erklärung dafür?
Die jungen Kolleg:innen erleben die Arbeitsbelastung hautnah. Von Referendar:innen oder Studierenden, die zum ersten Mal ein Schulpraktikum machen, hören wir immer häufiger: Was ich hier erlebe, ist nicht mein Traumjob, bis zur Pension werde ich das nicht machen. Die hohe Abbrecherquote im Studium spricht eine deutliche Sprache. Offensichtlich hat sich herumgesprochen, dass der Job im schlimmsten Fall krank macht.
Die GEW Niedersachsen hat im Sommer rund 600 Referendar:innen und frische Lehrkräfte zur Ausbildung befragt. Was sind die Ergebnisse?
Bei den Referendar:innen berichtet mehr als die Hälfte von Angstzuständen und wünscht sich mehr Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. Gleichzeitig meldet ein Großteil zurück, dass sie die Arbeit eigentlich gerne machen. Auch ein anderes Ergebnis hat uns ehrlicherweise sehr erschreckt: Eigentlich alle Kolleg:innen fühlen sich nach dem Referendariat schlecht auf den Lehrerjob vorbereitet. Offenbar bereitet das Referendariat vor allem auf die Abschlussprüfung vor – nicht auf den Berufsalltag.
Referendar:innen kritisieren vor allem den ständigen Druck und die vielen Lehr- und Unterrichtsproben. Das Niedersächsische Bildungsministerium selbst spricht von vielen „stressbelasteten Prüfungssituationen“ im Referendariat, sieht aber keinen Handlungsbedarf.
Diese Haltung kann ich absolut nicht nachvollziehen. Wir haben in unserer Rechtsberatung jede Woche mindestens zwei Fälle, in denen sich Referendar:innen an uns wenden, weil sie mit dem Druck nicht umgehen können. Diese Zahlen haben sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Das können wir uns nicht mehr leisten. Wir brauchen dringend eine Reform der Ausbildung, um diese Leute zu halten.
Wie sähe diese Reform konkret aus?
Bisher haben wir ja drei Phasen der Ausbildung: Studium, Referendariat und dann eine dreijährige Probezeit. Wie das Unterrichten funktioniert, erlernen die Lehrkräfte erst so richtig in der Probezeit. Deshalb fordern wir, die Praxisanteile im Studium deutlich zu erhöhen, um den Praxisschock abzumildern. Gleichzeitig würden wir Referendariat und die Probezeit zusammenzulegen zu einer Einführungsphase. An deren Ende stünde dann aber nicht die Staatsprüfung, sondern eine Bewährungsfeststellung.
Was wäre der Vorteil?
Der Vorteil wäre, dass die angehenden Lehrkräfte bereits am Ende des Studiums auf eine Planstelle gehen können. In der Einführungsphase müsste es aber auch auch ein besseres Coaching für die Referendar:innen geben.
Viele Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Thüringen und Sachsen-Anhalt testen mittlerweile das duale Studium, um angehende Lehrkräfte besser auf den Beruf vorzubereiten. Niedersachsen bisher nicht. Wären Sie dafür?
Nicht unbedingt. Denn wenn die duale Ausbildung funktionieren soll, dann braucht es auch eine gute Betreuung vonseiten der Hochschulen. Dazu benötigen sie entsprechend viel Personal.
Im Frühling hat die Landesregierung einen Schulgipfel einberufen. Wie gut stehen denn die Chancen für eine Reform des Lehramtes?
Auf dem Schulgipfel haben wir Ideen ausgetauscht. Auch im Landtag wurde über eine Reform des Lehramts diskutiert. Laut Koalitionsvertrag soll sich die Ausbildung künftig nicht mehr nach Schulformen richten – sondern nach den verschiedenen Jahrgangsstufen. Wir begrüßen diese Idee, auch wenn die genaue Ausgestaltung offen ist. Wichtig ist, dass wir zügig in die Umsetzung kommen. Es ist offensichtlich, dass das Lehramt in der jetzigen Form seine Ziele verfehlt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Lateinamerika und Syrien
Assads Freunde