Fußballkultur und Mauerfall in Berlin: „Alle lagen sich in den Armen“
Die Reihe „Fußball ohne Mauer“ verbindet Sport und Mauerfall. Es geht um Fußball-Biografien in Berlin und Freundschaften über die Mauer hinweg.
Die Flucht führte bis Hamburg, die Nacht verbrachten sie auf der Reeperbahn. „Und ich 21-jähriger doofer Ossi dachte: Oh Gott, hoffentlich hab ich keinen Fehler gemacht.“ Um sechs Uhr am nächsten Morgen reiste Kruse weiter nach Westberlin, er schloss sich Hertha BSC an, Kontakt gab es schon vorher.
Die Leute, sagt er heute, wunderten sich: Der Kruse ist geflüchtet, und dann geht er freiwillig dorthin, wo er wieder eingemauert ist? „Aber das ist doch Quatsch. Es geht nicht darum, eingemauert zu sein, sondern darum, tun zu können, was man will. Ich hatte mich nie so frei gefühlt wie in Berlin.“ – Vier Monate später ging die Mauer auf. „Und ich war erst mal echt sauer: Die Kommunisten können jetzt alle umsonst rüber?“
Es sind Sätze wie diese, die die Veranstaltungsreihe „Fußball ohne Mauer“ unterhaltsam machen. In einer Kooperation haben das Fanprojekt Berlin, Gesellschaftsspiele e. V., das Lernzentrum und die Fanbetreuung von Hertha BSC die Reihe organisiert, die zeigen soll, dass der Mauerfall „kein von Fußball und Fankultur losgelöstes Ereignis“ war.
Fan-Freundschaft zwischen Hertha und Union
Auf dem voll besetzten Podium sind Fans, Spieler und Spielerinnen und Vereinsverantwortliche von Berliner Klubs aus Ost und West geladen. Vor allem eins wird deutlich: dass die Ossi-oder-Wessi-Identitätsthesen der letzten Jahre, bei aller Notwendigkeit einer Grundsatzdiskussion, zu kurz greifen. Weil Identitäten sich aus vielen Einflüssen speisen und sowieso gerade in Berlin viele Familien Ost- und West-Vergangenheiten haben, die Unterschiedliches bewirkten, mal Verständnis für die Seite jenseits der Mauer, mal Ablehnung. So verwoben auch alles, dass einige Fanszenen und Vereine eine Freundschaft oder Vereinsliebe jenseits der Mauer pflegten, am berühmtesten die Fanfreundschaft zwischen Hertha und Union. Und trotzdem mit dem Fall der Mauer heftig Verschiedenes aufeinanderprallte.
Kruse, geflüchtet aus Rostock, heimisch geworden bei Hertha, ein bodenständiger Typ mit angenehmer Direktheit, ist die Hauptfigur des Abends. Es geschieht selten, einen Ex-Fußballer auf dem Podium zu haben, der kaum nach Fußball gefragt wird. Es drängt sich der Gedanke auf, dass man so etwas öfter mal tun könnte. Kruse, aufgewachsen in einem kleinen Dorf, erlebte eine geteilte Familie: drei Geschwister des Vaters flohen in den Westen. Da seien die ganzen Faschisten, erklärte man ihm in der Schule. Als er elf Jahre alt war, kamen aber die Westverwandten zu Besuch und stellten sich als recht nett heraus, ihm kamen erste Zweifel.
Als Fußballer lebte Kruse privilegiert, durfte ins nichtsozialistische Ausland reisen. „Die Flucht war keine finanzielle Entscheidung.“ Er wollte Freiraum, „jeder Mist wurde einem in der DDR vorgeschrieben“. Er wolle sich zum Beispiel nicht für Abwesenheit auf der Hausversammlung rechtfertigen müssen. Aber erst, als die Stasi den jungen Spieler verhörte und verdächtigte, fliehen zu wollen, kam ihm tatsächlich der Gedanke an Flucht. Im Juli 1989 war er drüben.
Die Reihe In einer Kooperation haben das Fanprojekt Berlin, Gesellschaftsspiele e. V., das Lernzentrum und die Fanbetreuung von Hertha BSC die Veranstaltungsreihe „30 Jahre Fußball ohne Mauer“ organisiert, die Geschichte mit Fankultur und Fußball verbinden soll. Dazu gehörte unter anderem eine Podiumsdiskussion. ZeitzeugInnen von Hertha, Union, dem BFC Dynamo, dem Friedenauer TSC und Tennis Borussia Berlin blickten auf ihr (Fußball-)Leben vor und nach dem Mauerfall zurück.
Radtour Am 13. Oktober wird es zweimal eine Radtour mit Zeitzeugenbegegnungen geben. Mit dem Fahrrad geht es zu Fußballorten entlang der ehemaligen Mauer, etwa zum Poststadion und zum Herthaplatz. Zeitzeugen wie Sportgrenzgänger oder Hertha-Fans aus der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik berichten davon, wie sie ihren Verein auch über die Mauer hinweg unterstützten oder Fanfreundschaften pflegten. Die Tour findet um 11.30 Uhr und 14.30 Uhr statt. Bewerbung wegen begrenzter Personenzahl mit Wunschtermin an fahrradtour@herthabsc.de.
Diskussion Wie haben die Fans der verschiedenen Berliner Vereine die Umbrüche erlebt? Wie wurde Fankultur in dieser Zeit gelebt? Wie waren die Fans der unterschiedlichen Berliner Clubs miteinander verbunden? Gemeinsam mit Zeitzeugen und Fans von Hertha, Union, BFC und TeBe geht es bei Gesellschaftsspiele e. V. am 15. Oktober ab 18 Uhr um Fußballwendegeschichten. Im Vorfeld der Diskussion findet die Erstausstrahlung des FDGB-Pokal-Viertelfinales 1988 (BFC gegen Union) statt. (asc)
Beim ersten Wiedervereinigungsspiel 1990, Hertha gegen Union, lief Axel Kruse für Hertha auf und erzielte das Führungstor. Ein Symbolakt, der doch so recht keiner war. „Ich habe diese Trennung in Ost/West sofort nach 1989 abgehakt.“ Und das Spiel? „Es war arschkalt und alle lagen sich in den Armen.“ Hertha siegte vor 51.000 Zuschauern mit 2:1. Gegen einige anwesende BFC-Fans verbündeten sich Herthaner und Unioner mit „Stasi raus“-Rufen, größere Gewalt wurde irgendwie verhindert. Beim Rückspiel in Köpenick, sinnbildlich für die abnehmende Wende-Euphorie, waren es dann nur noch rund 3.000 Zuschauer.
Ost-West-Runde ohne gegenseitige Vorwürfe
Das Podium ist launig, anekdotenhaft und frei von Wut. Eine Ost-West-Runde, die ohne dauernde gegenseitige Vorwürfe auskommt und trotzdem angeregt diskutiert: Warum die Berliner eigentlich toleriert haben, so lange geteilt zu sein? Warum ihnen allen diese Mauer damals so normal, so egal erschien? Wie man nach dem Mauerfall miteinander umging …
Die Unsicherheiten auch im Westen fasst Christian Wille, Vorsitzender des Friedenauer TSC, beiläufig zusammen, als er erzählt, wie er und sein Team sich bei einem Turnier im ehemaligen Osten nach der Wiedervereinigung scheuten, mit den coolen Adidas-Klamotten hinzufahren. Sie fuhren in anderen Klamotten, der Hallenboden war glatt, die Wessis kriegten „in jedem Spiel Haue“. Vereinsfreundschaften in den Osten aber pflegten auch sie, nach Babelsberg, schon vor dem Mauerfall. Ein Westberliner Fan, heißt es übrigens, sei damals so in die DDR vernarrt gewesen, dass er bei Union als Ordner arbeitete, mit Tagesvisum. Dinge gibt’s.
Sehr anschaulich erzählt die Feinheiten der Identität Carsten Bangel, heute Stadionsprecher von Tennis Borussia und aufgewachsen in Westberlin. Sein Vater sei aus Sachsen-Anhalt. Zufällig war er 1961, als der Mauerbau begann, im Ostsee-Urlaub und machte rüber in den Westen. „Mein Vater war heftiger Antikommunist, das war zu Hause immer Thema. Aber man ist davon ausgegangen, die Situation mit der Teilung ist jetzt so, und die ändert sich nicht.“ Bangel junior wiederum sah sich links, entdeckte die Westberliner Subkultur und hörte später DDR-Punk.
Heute sagt er Sätze wie diesen: „In Berlin wurde Hedonismus gelebt, eine gewisse Gleichgültigkeit. Dieses Westberlin ist genauso verschwunden wie der alte Osten.“ Und als die Mauer dann fiel ud die Biotope sich vermischten, waren die Differenzen unter den Fanlagern manchmal heftiger als erwartet. „Fußball im Osten war für uns brave TeBe-Fans ein Kulturschock“, sagt Bangel. TeBe war vielen im Osten der Inbegriff westlicher Dekadenz und Feindbild. Die Feindbilder „reicher Verein“ und „jüdischer Verein“ haben sich dann auch gemischt. Und der Ruf „Juden-Berlin“ war im Osten sowieso völlig normal – Gewalt, Rassismus, Rechtsradikalismus, und plötzlich ist man zurück in der Gegenwart. Aber nur kurz.
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