Fußball in England: Er führt die Schmutzigen nach oben
Mit Trainer Marcelo Bielsa steigt Leeds United in die Premier League auf. Nach 16 Jahren Unterklassigkeit präsentiert sich der Klub ganz neu.
Eine Handgranate war diesmal nicht nötig. Über den argentinischen Trainer Marcelo Bielsa sind ja unzählige Anekdoten und Legenden im Umlauf, die seinen Spitznamen “El Loco“, der Wahnsinnige, rechtfertigen. Eine davon geht so, dass er in seiner Zeit bei seinem Heimatverein Newell’s Old Boys eine Gruppe wütender Anhänger mit einer Handgranate von seinem Grundstück vertrieb.
Als sich jetzt ein paar Fans vor seinem Haus versammelten, kamen sie allerdings in friedlicher Absicht. Sie kamen, um dem Trainer dafür zu danken, dass er Leeds United nach 16 Jahren im Exil der Zweiten und Dritten Liga zurück in die Premier League geführt hat. Einer der Besucher bezeichnete ihn sogar als Gott. Der 64 Jahre alte Argentinier nahm die Verehrung verschüchtert entgegen. “Sänk you! Sänk you!“, rief er immer wieder.
Das sensationelle Vorrücken ins Halbfinale der Champions League 2001 war ein letztes großes Hurra für den Traditionsklub. Danach folgte der tiefe Sturz in die sportliche und wirtschaftliche Depression mit dem Abstieg bis in die Dritte Liga und der Insolvenz. Leeds United hat seit dem Abschied aus der Premier League vor 16 Jahren alles versucht, um die Rückkehr ins Oberhaus zu schaffen.
Der Verein wechselte mehrmals die Besitzer und hatte einen Trainerverschleiß, der an den Hamburger SV erinnert. Alles ohne Erfolg. Der dreimalige Meister schien auf ewig verstoßen zu sein aus der Elite des englischen Fußballs. Bis der seit 2017 amtierende Eigentümer Andrea Radrizzani, ein italienischer Geschäftsmann, und Sportdirektor Victor Orta im Frühjahr 2018 die wahnwitzige Idee hatten, Kontakt zu Bielsa aufzunehmen.
Mit Drill wie beim Militär
Die Zahl der Titel des Argentiniers ist überschaubar, doch er ist eine Ikone der Branche, das Vorbild unter anderem vom Pep Guardiola und Mauricio Pochettino. Eines seiner größten Merkmale ist seine Besessenheit. Als der erste Anruf aus Leeds kam, war Bielsa nicht zu erreichen, die Mailbox sprang an. Am nächsten Tag rief er zurück – und hatte sich schon sieben Spiele von Leeds United angeschaut. In Rekordzeit verwandelte Bielsa eine mittelmäßige Zweitliga-Mannschaft in ein Team, das die Fans an der Elland Road in einen Fiebertraum versetzte.
Bielsas laufintensive Spielweise verlangt seinen Profis körperlich alles ab. Im Training drillt er sie wie beim Militär. Der Nachteil dabei ist, dass seinen Mannschaften gegen Ende der Saison immer wieder die Kraft ausgeht. So war es auch in seiner ersten Spielzeit in Leeds. Das Team verpasste den lange sicher geglaubten Aufstieg knapp. Der Klub fürchtete Bielsas Abschied, doch der Trainer unterschrieb für ein weiteres Jahr und vollendete sein Werk in seiner zweiten Saison.
Er hat bei Leeds United mehr bewirkt als einfach nur die Rückkehr ins gelobte Land, die Premier League. Es ist ihm gelungen, dass der notorische Chaos-Klub mit dem Schmuddelimage (Spitzname “Dirty Leeds“) plötzlich von Fußballhipstern und Taktiknerds bewundert wird. Sogar zur moralischen Instanz taugt Leeds mittlerweile. Im vergangenen Jahr gewann der Klub den Fairness-Preis der Fifa, weil Bielsa im Zweitligaspiel gegen Aston Villa angeordnet hatte, den Gegner ein Tor schießen zu lassen.
Seine Unberechenbarkeit hat sich der Trainer trotz allem bewahrt. Es ist längst nicht sicher, dass er seinen Vertrag noch einmal um ein Jahr verlängert. Der Verein will sich umgehend in Verhandlungen mit Bielsa begeben – und entwirft schon wieder große Pläne. Die Rede ist davon, dass man irgendwann zurück in die Champions League will.
Unabhängig davon, ob dieses Unterfangen mit oder ohne Bielsa in Angriff genommen wird, ist er für die Fans eine Legende, und auch die Stadt will ihn ehren. Als Dank für die Rückkehr ins Oberhaus soll es in Leeds künftig den Marcelo Bielsa Way geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Neue EU-Kommission
Es ist ein Skandal
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative