Fußball-WM-Qualifikation: Nur normale Nägelkauerei
Mit 3:1 gewinnt Julian Nagelmanns DFB-Team über Nordirland. Der Abstand der deutschen Kicker zur Weltspitze ist eher größer geworden.
Es war schon auffällig, wie rasch sich am Sonntagabend eine Stimmungshochburg des deutschen Fußballs leerte. Klar, es gab genug Anhänger, die noch eine Deutschlandfahne schwenkten oder Beifall klatschten, aber die Mehrheit begab sich unter den Peter-Schilling-Klängen mit „Major Tom“ lieber auf den Heimweg aus Köln-Müngersdorf. „Völlig losgelöst“ ist bei der deutschen Nationalmannschaft nur noch wenig, die beim Heimsieg gegen Nordirland (3:1) bloß die Pflicht erfüllte, um einen kolossalen Fehlstart in die WM-Qualifikation abzuwenden. Das Länderspiel bot nicht bessere Unterhaltung als am Sonntagabend so mancher „Tatort“, der zu verkopft rüberkommt.
Das gellende Pfeifkonzert zur Pause war die naheliegende Quittung, doch mit dem Unmut hatte Julian Nagelsmann sein Problem. Die Zuschauer hätten viel Geld gezahlt und würden mit einer gewissen Erwartungshaltung ins Stadion kommen, sagte der Bundestrainer später. „Ich habe auf der einen Seite Verständnis und auf der anderen Seite einen Wunsch für etwas anderes.“
Der 38-Jährige glaubt, darin eine gesellschaftliche Unsitte zu erkennen. Er würde nicht pfeifen: „Weil ich glaube, dass es den Menschen da unten nichts bringt. Wenn wir alle wie Hyänen im Busch sitzen und warten, bis man endlich wieder beißen und sagen kann, wie schlecht jemand ist und dass er alles beschissen macht – ich glaube nicht, dass man sich dann so super entwickelt als Land.“
Julian Nagelsmann, sportartübergreifender Experte
Wie schon nach dem Viertelfinal-Aus bei der EM 2024 mit der Hilfe beim Heckeschneiden spannte Nagelsmann einen großen Bogen. Was damals wegen der Strahlkraft des Events durchaus passend schien, wirkte nun windschief. Denn in seinem Fachgebiet liegen grundlegende Defizite vor.
Es mag ja sein, dass seine Elf seit März 2024 mit einer Dreierkette aufbaut. Entweder nominell wie gegen Nordirland mit den Innenverteidigern Antonio Rüdiger, Waldemar Anton und Robin Koch oder aber mit einem abkippenden Sechser. Das Problem: Es dauert viel zu lange, bis der Ball nach vorne kommt.
Lagerfeuer und Projektionsfläche
Die Außenrist-Pässe des stilvoll von der DFB-Elf verabschiedeten Weltmeisters Mats Hummels würden der Nationalelf nie so guttun wie jetzt. Und auch Nagelsmann wird wissen: Wenn wie bei der Blamage in Bratislava gegen die Slowakei (0:2) die Haltung nicht stimmt, kann der gemeine Fan richtig böse werden.
Noch immer gelten seine Kicker als Projektionsfläche für den Zustand Deutschlands. Im Grunde muss die Mannschaft die Schelte bei schlechten Spielen aushalten, denn in guten Zeiten möchte sie das Lagerfeuer sein, um das sich eine Nation schart.
In der heiklen Phase rund um den Ausgleich von Nordirlands Isaac Price (34.) kaute Nagelsmann an seinen Fingernägeln. Das habe er schon in der F-Jugend gemacht, erklärte er später schmallippig, daraus sollte niemand eine Anspannung ableiten. Aber natürlich fiel auch von ihm eine Last ab.
Später bemühte sich der erleichterte Bayer um Bodenhaftung: „Ich finde es ein bisschen vermessen, nach Donnerstag, wo alles in Schutt und Asche lag, jetzt auf himmelhochjauchzend zu machen.“ Der Lehrgang sei von den Ergebnissen her nur „zu 50 Prozent zufriedenstellend“ gewesen. Im Oktober soll in Sinsheim gegen Luxemburg (10. Oktober) und in Belfast gegen Nordirland (13. Oktober) eine 100-Prozent-Ausbeute folgen – also sechs Punkte. Der Bundestrainer räumte nach gerade mal 30 überzeugenden Minuten ein: „Wir haben viele Schritte noch zu gehen.“
Gefühlt ist der Abstand zur Weltspitze weiter gewachsen. Nagelsmann konterte die Kritik, mit zu vielen Experimenten das Gift der Verunsicherung zu streuen. Er könne sich unmöglich auf eine Stammelf festlegen, wozu der Fußballlehrer mal flugs in den Motorsport wechselte: „Die Formel 1 fährt auch nicht immer mit denselben Reifen, weil es einfach keinen Sinn macht, mit Slicks zu fahren, wenn es regnet.“
Die düsteren Wolken über Köln hat er übrigens selbst vertrieben: Der in der Nations League gegen Italien (3:3) und Portugal (1:2) für seine unglücklichen Einwechslungen gerügte Bundestrainer besaß in seinem 25. Länderspiel ein glückliches Händchen. Maximilian Beier und Nadiem Amiri sorgten von der Bank für die Belebung. So entstand das 2:1, als der nordirische Torwart Bailey Peacock-Farrell vom englischen Drittligisten FC Blackpool eine Halbfeldflanke falsch einschätzte (69.). Kurz darauf zauberte der Neu-Liverpooler Florian Wirtz mit famoser Schusstechnik die Kugel zum 3:1 in die Maschen (72.).
Eine Energieleistung und ein Kunstschuss verhinderten die Massenflucht aus einem Stadion, in dem der 1. FC Köln viel mehr Frohsinn zu verbreiten pflegt.
Fairplay fürs freie Netz
Auf taz.de finden Sie unabhängigen Journalismus – für Politik, Kultur, Gesellschaft und eben auch für den Sport. Frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Alle Inhalte auf unserer Webseite sind kostenlos verfügbar. Wer es sich leisten kann, darf gerne einen kleinen Beitrag leisten. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historikerin über rechte Körperpolitik
Die Fantasie vom schönen Volk
Linken-Bashing in der „Zeit“
Vom bürgerlichen Drang, über Mitte und Norm zu herrschen
US-Verteidigungsministerium umbenannt
Kriegsminister gibt es wieder
Prozess gegen Flüchtlingshelfer
Hilfe als Straftat?
Höhere Bemessungsgrenzen
Gutverdienende sollen mehr Sozialabgaben zahlen
Die Grünen und das Verbrenner-Aus
Peinliches Manöver, aber Kurve gekriegt