Fußball-Profiliga in Saudi-Arabien: Es ist mehr als nur Sportswashing
Die Profiliga Saudi-Arabiens (SPL) stellt zur EM 2024 so viele Spieler wie keine andere außereuropäische Liga. Ein Propagandamittel zum richtigen Zeitpunkt.
Es ist kein übler Kader, mit dem Saudi-Arabien zur EM antritt: In der Verteidigung Jack Hendry (Al Ettifaq), Aymeric Laporte (Al Nassr), Andrei Burca, Solomon Kvirkvelia (beide Al Okhdood) und Merih Demiral (Al Ahli), im Mittelfeld Sergej Milinkovic-Savic (Al Hilal), Yannick Carrasco (Al Shabab), Nicolae Stanciu (Damac FC), Marcelo Brozovic (Al Nassr), Ruben Neves (Al Hilal) und natürlich N'Golo Kanté (Al Ittihad) und Georginio Wijnaldum (Al Ettifaq), im Sturm Aleksandar Mitrovic (Al Hilal) und Kronjuwel Cristiano Ronaldo, dank dem jetzt die halbe Welt Vizemeister Al Nassr kennt.
Am Torhüter mangelt es noch, aber Koen Casteels (Al-Qadsiah) wird bald Abhilfe schaffen. Es ist ein Novum bei einer EM der Männer: Zum ersten Mal wohl stellt ein Nicht-Uefa-Staat so viele Spieler. Nachdem ein Gutteil des europäischen Spitzenfußballs schon finanziell vom Nahen Osten abhängig ist, ist das der logische nächste Schritt einer möglicherweise tiefgreifenden Machtverschiebung. Dem arabischen Twitter entging auch nicht, dass N'Golo Kanté – jener Mann, über den viele gelästert hatten, er habe mit dem Wechsel nach Saudi-Arabien seine Karriere begraben – nach starkem Auftakt Spieler des Spiels wurde, ebenso wie dieser Nicolae Stanciu.
Die Saudi Pro League ist die große Unbekannte bei der EM. Die französische Equipe bescheinigte vielen Saudi-Legionären beim Turnier Schwierigkeiten, mit dem „europäischen Rhythmus“ zurechtzukommen, doch einige glänzten eben auch. Über sechs Milliarden Dollar hat sich die Ölmonarchie wohl allein zwischen 2021 und 2023 Sport kosten lassen.
Zahllose Staaten haben seit dem Zweiten Weltkrieg versucht, Fußballzentren jenseits von Europa zu schaffen. Vielzitierte Beispiele sind die USA und China, doch bemüht haben sich viele mehr, seit Kolumbien in den 1950ern mit seiner El Dorado-Liga die damals höchsten Gelder der Welt zahlte. Gescheitert sind die Versuche durchweg, die Gründe mannigfaltig: Ausschlüsse, platzende Investmentblasen, fehlende kulturelle Verankerung des Fußballs, Konflikte zwischen überbezahlten abgehalfterten Ausländern und prekären Teamkameraden – und die Tatsache, dass es sauteuer ist, Europa das Monopol abzukaufen. Saudi-Arabiens Großeinstieg, hierzulande verlacht und geschmäht als Propagandanummer, ist auch ein Ringen um Teilhabe. Mit so großem Kapitaleinsatz wie nie. Angesichts der bröselnden Vorherrschaft des Westens könnte der Zeitpunkt diesmal richtig sein.
„Sportswashing“ – eine eurozentrische Analyse
Das brutale saudische Regime hat dabei gewiss auch Imagepflege als Motiv. Die saudische Menschenrechtlerin Lina Al-Hathloul kritisierte kürzlich, wie die Fußballer sich als Propagandamittel ausnutzen lassen. „Sie alle schauen weg, wenn es um die Unterdrückung in Saudi-Arabien geht.“ Manche sollen Klauseln unterschrieben haben, den Mund zu halten. Wie gut lebt sich's doch als Millionär in der Diktatur. Zugleich ist der enorme Fokus auf „Sportswashing“ eine arg eurozentrische Analyse: Spätestens seit der Völkermord-Anklage im Gaza-Krieg und dem Katar-Debakel lacht ein Großteil der Welt nur noch über moralische Vorträge des Westens.
Saudi-Arabien hat Europas Segen geopolitisch weniger nötig, als viele Europäer:innen mitbekommen haben. Auch sind die gar nicht erstes Zielpublikum. Die Saudi Pro League (SPL) ist nicht zuletzt eine Machtansage an den asiatischen Kontinent und die arabische Welt. Von Syrien bis Indonesien sollen die Fans SPL schauen neben Premier League und La Liga – oder zumindest Trikots kaufen. Gerade für muslimische Spieler wäre eine solche Spitzenliga auch kulturell ein Novum. Und sie soll Entwicklungstool fürs eigene Land sein – für mehr Diversifizierung, Jugendunterhaltung, gegen das Fettleibigkeitsproblem und für Breitensport. Wird das aufgehen?
„Sie haben es uns nicht leicht gemacht. Tatsächlich gibt es viele Spieler, die unzufrieden sind.“ So hat Aymeric Laporte über Saudi-Arabien geklagt. Prestigetransfer Jordan Henderson verließ das Land schon nach einem halben Jahr wieder und bezeichnete seinen Wechsel als „Fehler“. Und viel Aufmerksamkeit erhielten leere Stadion wie bei Al Okhdood gegen Al Riyadh mit 133 Fans. Es sind Meldungen, die in europäischen Medien groß laufen; viele behaupteten voreilig ein gescheitertes Experiment. Doch solche Pauschalurteile werden der Liga nicht gerecht.
Steigerung um 5 Prozent
2024 hat die SPL Zahlen zu ihrer Entwicklung veröffentlicht. Demnach sei die Zuschauerzahl im Vergleich zur letzten Saison um fünf Prozent gestiegen. Meister Al Hilal konnte seinen Schnitt sogar verdreifachen. Die Liga wächst. Die Zahlen demonstrieren allerdings auch eine Achillesferse: Die große Lücke zwischen den vier Topklubs, die dem milliardenschweren Public Investment Funds (PFI) gehören und schon vorher große Fanscharen anzogen, und dem Rest. Auf Social Media vereinen diese vier Klubs 94 Prozent aller Follower, ihre Auswärtsfans sind oft zahlreicher als die Heimfans. „In Saudi-Arabien identifizieren sich die Provinzstädte nicht mit ihrem Heimteam, sondern unterstützen die erfolgreichsten Teams“, schreibt der saudische Sportjournalist Wael Jabir. Er sieht zudem große regionale Unterschiede.
Funktioniert eine Liga mit so großen Binnendifferenzen? Jabir sieht eine Chance für kleine Klubs darin, populäre Spieler aus Ländern mit großen migrantischen Communities in Saudi-Arabien zu verpflichten, etwa Syrien, Jordanien oder Indonesien. Der Transfer des Syrers Omar Al Somah zu Al Ahli habe dem Klub eine große syrische Fangemeinde beschert. Außerdem müssten die Klubs zwingend mehr Bindung zum eigenen Ort aufbauen. Aber es fehlt eben auch Geld, das die Flaggschiffe kriegen.
Ein zweites Strukturproblem hat das Middle East Eye ausgemacht: Durch die vielen internationalen Stars bekommen die saudischen Talente enorm wenig Spielzeit. In einer Analyse von 60 internationalen Ligen 2021/22 unter der Fragestellung, wie viel Spielzeit unter 21-Jährige dort bekamen, schnitt Saudi-Arabien auf dem letzten Platz ab. Und die internationale Wirkung? Die Youtube-Aufrufe der Liga-Highlights, so das Medium, bleiben derzeit zahlenmäßig enttäuschend – und weit hinter denen populärer arabischer Ligen wie Ägypten.
Die Saudi Pro League muss massive Strukturprobleme lösen, will sie wirklich eine Zeitenwende einläuten. Gleichzeitig hat die Sportoffensive schon deutliche Effekte gehabt: Als geopolitisches Statement, als Boost des nationalen Selbstbewusstseins und bei der Popularisierung von Fitness und Breitensport in der saudischen Gesellschaft. Es gebe „eine große Euphorie, dieses Land verändern zu wollen“, sagte Islamwissenschaftler Sebastian Sonst jüngst dem Deutschlandfunk. Es gilt, auch das anzuerkennen. Regime-Maskottchen Ronaldo sagt: „Die Dinge ändern sich, die Welt ändert sich, der Fußball ändert sich, die Regeln ändern sich.“ Wie weit, wird die EM aber vermutlich noch nicht zeigen. Egal, wie oft N'Golo Kanté noch Spieler des Spiels wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“