Fußball-Bundesliga: Was Kahn ausflippen lässt
Anthony Modeste sorgt durch sein 2:2 in der 95. Minute für Dortmunder Glücksgefühle. Für die Bayern eine Krise, für Fans die Hoffnung auf Spannung.
Vermutlich ist es noch nie passiert, dass das Publikum im Dortmunder Westfalenstadion voller Inbrunst ein Lied anstimmte, das einst von den Gelsenkirchener Erzrivalen erfunden wurde. Schalker haben einst zu Ehren ihres Stürmers Ebbe Sand Dutzende Strophen über die außergewöhnlichen Fähigkeiten dieses Spieler gedichtet, zum Beispiel: „Wer köpft den Nagel in die Wand? Ebbe Ebbe Sand!“ Jahre später klauten Anhänger des 1. FC Köln dieses Lied, um ihren Helden Anthony Modeste zu huldigen, der Ballermann-Star Ikke Hüftgold machte einen Schlager daraus.
Aber derart berauscht von spontaner Stadioneuphorie wie am Samstagabend in Dortmund ist der Song wohl nie geschmettert worden. „Wer sorgt fürs späte Fußballfest? Anthony Modeste!“ wurde spontan gedichtet und: „Wer gibt dem Klassiker den Rest? …“ Der Stürmer, der in den Wochen zuvor mehr und mehr zum schwarz-gelben Krisenfall geworden war, hatte in der fünften Minute der Nachspielzeit eine furiose Aufholjagd mit dem 2:2 gegen den FC Bayern gekrönt und Tausende Menschen in Ekstase versetzt.
Das Stadion sei in diesem Augenblick „mal kurz auseinandergerissen worden“, sagte der Dortmunder Sportdirektor Sebastian Keh, weil ihm keine passenderen Worte für die wilde Explosion der Gefühle einfielen. Sieger waren die Dortmunder zwar nicht, aber der Gewinn, den sie aus diesem krachenden Schlussakkord ziehen können, ist vielleicht sogar wertvoller als zwei Punkte: Das Publikum erlebte die intensivste Ausschüttung von Glücksgefühlen seit Beginn der pandemischen Jahre. Der BVB befindet sich tabellarisch weiterhin auf Augenhöhe mit dem FC Bayern, der nun schon zum vierten Mal in dieser Bundesligasaison Unentschieden gespielt hat.
Die Dortmunder konnten sich für ihre vielfach kritisierte Mentalität feiern lassen, weil sie einen 0:2-Rückstand aufgeholt hatten, mit „wahnsinnig viel Engagement, mit wahnsinnig viel Moral“, sagte Kehl. Zudem taugte das in spontanem Entsetzen verzerrte Gesicht des Bayernchefs Oliver Kahn, das TV-Kameras im Moment des Ausgleichtors einfingen, als kleine Kirsche auf der Torte des Glücks. Und nicht zuletzt erhielt die Dortmunder Stürmerdiskussion an diesem Tag eine vollkommen neue Richtung.
Der eingewechselte Modeste
Wie schon unter der Woche beim 4:1-Sieg in der Champions League in Sevilla saß Modeste nun auch in der Bundesliga erstmals seit seinem Wechsel aus Köln nur auf der Bank, zu kläglich waren seine Auftritte zuletzt gewesen. Am Samstag aber hatte er Youssoufa Moukokos Tor zum 1:2 vorbereitet (74.) und das Nachspielzeitdrama mit dem 2:2 gekrönt. Wobei er bis zu seinem finalen Kopfballtor akut davon bedroht war, abermals zur tragischen Figur zu werden.
Anthony Modeste, Borussia Dortmund
Denn in der 83. Minute war er sechs Meter vor dem Tor völlig frei zum Abschluss gekommen, noch günstigere Torgelegenheiten sind selten. Doch Modeste traf den Ball nicht sauber. „So nah liegt das oft beisammen“, sagte Kehl, „jetzt wurde er gefeiert, das tut uns allen gut, das tut ihm gut, und das war vor allem für die Mannschaft extrem wichtig.“
Aufgrund der guten Leistungen des 17 Jahre alten Moukoko in Sevilla und nun gegen die Bayern lindert sich das Angriffsproblem merklich. Das Duo Modeste/Moukoko hat jetzt in zwei Spielen zwei Tore geschossen und zwei weitere vorbereitet, das ist eine ordentliche Bilanz. Und die beiden scheinen sich bei aller Konkurrenz auch irgendwie zu mögen. „Ich bin sein Vater, das kann man so sagen“, erklärte der 34 Jahre alte Modeste und berichtete davon, dass er sich in der vergangenen Woche in der Kabine „ein bisschen beschwert“ hat: „Wir flanken nicht genug und wir können nicht nur sexy spielen“, hatte er seinen Kollegen gesagt.
Tatsächlich war diese betörende Schlussphase vom Samstag, in der ein hoher Ball nach dem nächsten in den Münchner Strafraum flog und in der sich sogar BVB-Torhüter Alexander Meyer dauerhaft vor dem Tor von Manuel Neuer aufhielt, wie gemalt für Modeste. Die entscheidende Flanke schlug schließlich Nico Schotterbeck, und später sagte Oliver Kahn: „Es ist eine erstaunliche Saison, wie wir es immer wieder schaffen, uns um den verdienten Lohn zu bringen.“ Denn die Bayern waren nach Treffern von Leon Goretzka (33.) und Leroy Sané (53.) deutlich überlegen, vergaben jedoch beste Möglichkeiten, ein drittes und viertes Tor zu schießen.
Zudem hatten sie Pech, dass Schiedsrichter Deniz Aytekin sich kurz vor der Halbzeit entschied, den bereits mit einer gelben Karte verwarnten Jude Bellingham nach einem zwar versehentlichen, aber doch sehr heftigen Tritt an die Schläfe von Alphonso Davies nicht vom Platz zu stellen. „Er tritt ihm einfach volle Kanne ins Gesicht, das ist nicht Gelb, das ist eine rote Karte, aber Minimum Gelb“, sagte Trainer Julian Nagelsmann. Nachdem zuletzt mehrere Spiele der Bayern in Dortmund aufgrund von Schiedsrichterentscheidungen zugunsten der Münchner kippten, lief es diesmal eben andersrum, und selbst Bayern-Fans müssen zugeben: Zur Erfüllung des auch in München existierenden Wunsches nach einem möglichst spannenden Titelkampf war das genau richtig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben