Frieden statt Krieg: Das Leben in finsteren Zeiten
Die supranationalen Organisationen wie die UN oder die OSZE haben an Bedeutung verloren. Muss das so bleiben? Und vor allem: Soll das so bleiben?
L ibyen versinkt im Chaos, westliche Länder haben ihre Botschaften geschlossen. Im Norden Nigerias sind eine halbe Million Menschen auf der Flucht vor der Terrororganisation Boko Haram. Mehr als 2.000 Todesopfer sollen deren Verbrechen allein in diesem Jahr bereits gefordert haben. Die islamistischen IS-Milizen, die große Teile Syriens und des Irak kontrollieren, begehen systematische Menschenrechtsverletzungen und brüsten sich damit im Internet. Im Südsudan droht infolge des Bürgerkrieges eine Hungersnot.
Die Welt ist unübersichtlich geworden, und niemandem – nicht einmal hauptberuflichen Politikbeobachtern – gelingt es noch, einen Überblick über die verschiedenen Spannungsgebiete zu behalten und deren Bedeutung einzuschätzen. Manchmal reden Leute jetzt fast sehnsüchtig von der Zeit des Kalten Krieges: Da wusste man, woran man war, und das Gleichgewicht des Schreckens sei mehr Gleichgewicht als Schrecken gewesen. Ja, früher war auch mehr Lametta.
Für die meisten Menschen außerhalb Europas hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht viel geändert: Gewalt, Korruption, selbst sogenannte Stellvertreterkriege wurden und werden damals wie heute von den Großmächten hingenommen, sogar in manchen Fällen befördert, solange die jeweilige Bündnistreue von Herrschern nicht in Frage stand.
Die Vereinten Nationen und andere supranationale Organisationen waren als Regulative des zwischenstaatlichen Zusammenlebens nie so stark, wie das wünschenswert gewesen wäre. Aber im Angesicht der wechselseitigen apokalyptischen Bedrohung funktionierten sie wenigstens halbwegs.
Deswegen lag der DDR so viel an der UN-Mitgliedschaft, deshalb war die OSZE-Schlussakte von Helsinki ein bedeutendes Dokument. Das Völkerrecht war ein Referenzrahmen, den die Mächtigen zwar im eigenen Einflussbereich oft missachteten, aber wenigstens im Umgang miteinander respektierten.
Angenommen man weiß, jemand wird mit 95 Prozent Wahrscheinlichkeit einen Mord begehen. Was macht man da? Ihn mit einer Drohne überwachen? Ein Gespräch mit den Science-Fiction-Autoren Marc Elsberg und Tom Hillenbrand über eine Zukunft, die wir immer besser kennen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 2./3. August 2014. Außerdem: Hoyerswerda hat wieder ein Asylbewerberheim. Kann die Stadt ihre Vergangenheit überwinden? Und: Helmut Höge über Waschbären. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Das ist heute nicht mehr so. Wenn der UN-Generalsekretär sich äußert, dann hat das inzwischen eine ähnliche Bedeutung wie eine Sonntagspredigt in einem säkularen Umfeld. Der Weltsicherheitsrat ist weniger wichtig für die Beilegung von Konflikten als die Entwicklung des DAX.
Muss das so bleiben? Nein, das muss nicht so bleiben – es darf nicht so bleiben. Das Völkerrecht und die UNO bedürfen dringend einer tief greifenden Reform. Bitte jetzt mal nicht lachen oder verächtlich die Mundwinkel senken.
Mit keiner anderen Forderung stellt man sich so leicht ins Abseits oder entblößt sich als naiv wie mit dieser. Augenrollen allerorten. Keine Chance, weiß sie das nicht?
Ich weiß, dass sich keine Veränderung der Weltordnung leicht durchsetzen lässt. Ich maße mir auch nicht an, eine Blaupause in der Schublade zu haben, die – würde sie nur umgesetzt – die Welt zu einem friedlichen Ort machen würde. Aber ich denke schon, dass gemeinsame intellektuelle und politische Anstrengungen zu Ergebnissen führen können, die Einzelne nicht zuwege bringen.
Was mich wirklich beunruhigt: Derzeit scheint es diese Anstrengungen nicht zu geben. Der Hinweis auf Chancenlosigkeit genügt zur Rechtfertigung von Tatenlosigkeit. Als seien der Westfälische Friede und die Gründung des Völkerbundes mühelos erreichbar gewesen, historische Spaziergänge sozusagen. Um mit Bertolt Brecht zu sprechen: Ich lebe in finsteren Zeiten.
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