French Open 2024: Eine eitle Art, sich zu amüsieren
Mit Pfeifkonzerten und Beschimpfungen sorgt das Pariser Publikum bei den French Open immer wieder für Eklats. Dieses Jahr flog sogar ein Kaugummi.
Das bisschen Schadenfreude konnte sich der belgische Tennis-Veteran partout nicht verkneifen. Stundenlang war David Goffin bei seinem Fünf-Satz-Marathon gegen den französischen Lokalmatador Giovanni Mpethshi Perricard beschimpft, ausgebuht und ausgepfiffen worden. Sogar ein Kaugummi hatte ein Rowdy von den Zuschauerrängen in seine Richtung gespuckt. Dann, im Augenblick des Erstrunden-Triumphs bei den French Open 2024, hielt sich der 33-jährige Flame die Hand ans Ohr und ließ genüsslich das schrille, finale Pfeifkonzert über sich ergehen, mit einem breiten Grinsen im Gesicht: „Irgendwie musste ich es ihnen heimzahlen. Das war die totale Respektlosigkeit, diese pausenlose Beleidigungsarie.“ Es gebe Leute hier, so Goffin, die „nur kommen, um Unruhe zu stiften.“
Einmal im Jahr kommt die Welt für Grand-Slam-Tennis nach Paris. Aber bedingungslos freundliche Gastgeber sind die französischen Fans ganz und gar nicht, schon seit vielen Jahren wird auf den Rängen des Stadionreiches Roland Garros vor allem ein hemmungsloser Chauvinismus ausgelebt. Zuerst kommt die frenetische Unterstützung für die vielen Spieler des gallischen Verbandes FFT (Fédération Française de Tennis), dann lange nichts – und dann Rückenwind für ein paar auswärtige Publikumsfavoriten.
Die allerdings in ihrer Karriere auch erst einmal den verqueren Patriotismus der Pariser durchleiden mussten, bevor sie spät, als Stars mit gebrochener Biografie, Applaus und Zuneigung bekamen. Rafael Nadal gehört zu ihnen, Roger Federer auch. Oder vor Jahrzehnten Steffi Graf oder Andre Agassi. Boris Becker grantelte mehr als einmal während seiner French-Open-Abenteuer über das „unfairste Publikum, das man sich nur vorstellen kann“. Er habe allerdings auch Energie daraus gezogen: „Ich genoss manchmal die Rolle allein gegen alle.“
Toni Nadal, Onkel und Trainer des Rekordchampions, lästerte einst über die French-Open-Fanmeute, es gebe nur eine Art von Zuschauern, „die schlimmer sind als der Franzose, und das sind die Pariser. Sie wollen, dass jemand verliert, und das ist eine eitle Art, sich zu amüsieren.“ Lange vor den Kalamitäten um den Mallorquiner hatte sich das Drama um Martina Hingis im denkwürdigen Damenfinale des Jahres 1999 ins kollektive Tennis-Gedächtnis eingebrannt, mit den Fans in einer Hauptrolle neben den Spielerinnen Hingis und Graf. Die Schweizerin, die sich gleich mehrere Blackouts leistete, wurde daraufhin gnadenlos niedergebrüllt und verhöhnt, stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs – es wirkte mitunter wie eine mittelalterliche Prangerszene.
Auch Franzosen geraten mal in Fadenkreuz
Genügen die eigenen Größen nicht den hohen Ansprüchen der Parisiennes, können sie mitunter selbst ins Fadenkreuz geraten. Selbst dem später vergötterten Spaßmacher Henri Leconte verging das Lachen, als er 1988 sang- und klanglos das Finale gegen den überlegenen Schweden Mats Wilander verlor. „Es war die absolute Katastrophe, der totale Horror“, erinnerte sich Leconte unlängst, „ich war nahe dran, vom Platz zu flüchten.“
Doch fast immer richtet sich die Aversion und Ablehnung gegen jeden Akteur, der gegen eine Französin oder einen Franzosen anzutreten hat – selbst der Schweizer Stan Wawrinka, ein frankophiler Profi aus der Romandie, wurde 2015 im Halbfinale gegen Jo-Wilfried Tsonga mit Pfiffen und Schmähungen abgekanzelt. „Extrem einschüchternd“ seien die Aktionen der Fans, so Amerikas Ex-Größe John McEnroe: „Das ist vor allem für junge Spieler ein Spießrutenlaufen.“
Eine kaum fassbare Schiedsrichterentscheidung im laufenden Wettbewerb hatte auch mit dem zuweilen aggressiven Fantrupp zu tun. Als der Franzose Terence Atmane in der Erstrundenpartie gegen den Österreicher Sebastian Ofener wütend einen Ball auf die Ränge schoss und dabei eine ältere Dame traf, bedrängten andere Zuschauer das Opfer. Die Frau solle erklären, dass ihr nichts Gravierendes passiert sei – und tatsächlich: Der Unparteiische sprach nicht die einzig ordnungsgemäße Strafe aus: eine Disqualifikation. Sondern nur eine Verwarnung. Eine Lex Les Bleus, unter sanftem Nachhelfen der Einheimischen.
US-Star Taylor Fritz hatte im Vorjahr ähnlich reagiert wie aktuell Kollege Goffin. Fritz hatte damals im Duell mit dem Franzosen Arthur Rinderknech einen Albtraum von Beschimpfung und Ablehnung durchgemacht und nach dem eigenen Sieg dann die Finger auf die Lippen gelegt. „Ich liebe euch. Ich liebe euch“, sagte er anschließend beim kurzen Interview mit der früheren Wimbledonsiegerin Marion Bartoli, „sie haben mich so angetrieben, dass ich sicherstellen wollte, dass ich gewinne.“ Danach war der Aufruhr so groß, dass das Interview abgebrochen werden musste.
Selbst die stets wohlwollende, ausgleichende Tunesierin Ons Jabeur beklagte sich jetzt über die Atmosphäre im Sandkasten von Roland Garros: „Die Leute sind darauf aus, dass ich einen Fehler mache, den Ball verschlage. Das wird gefeiert. Aber das ist etwas, was ich nicht mag. Und was nicht hierher gehört.“
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