Freihandelsabkommen in Nordamerika: Mexiko warnt Europa
Nach 22 Jahren Freihandelsabkommen mit USA und Kanada zieht Mexiko eine fatale Bilanz. Was heißt das für TTIP und die Europäer?
Der Verlierer heißt – Mexiko. Das ist die bittere Bilanz, die mexikanische Gewerkschaften und Bauernverbände 22 Jahre nach Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) ziehen. Der 1994 mit den USA und Kanada vereinbarte Vertrag sollte Beschäftigung, Wohlstand und sozialen Frieden bringen. Doch heute lebt fast die Hälfte aller MexikanerInnen in Armut, die Gewalt hat exorbitant zugenommen.
„Das Abkommen war nur darauf ausgerichtet, neoliberale Reformen abzusichern“, sagt der linke Journalist Luis Hernández Navarro. Auch Wirtschaftsprofessor Enrique Dussel Peters ist kritisch. Nafta habe die mexikanische Ökonomie polarisiert: „Es gibt wenige Gewinner und sehr viele Verlierer.“
Von großen Fortschritten kann tatsächlich nicht die Rede sein. Mexikos Wirtschaft wuchs mit durchschnittlich 1,3 Prozent pro Jahr wesentlich weniger schnell als die Brasiliens, Chiles oder Perus. Auch seien zu wenige Arbeitsplätze entstanden, kritisiert Dussel. Befürworter verweisen dagegen auf Erfolgszahlen: Der Handel zwischen den drei Staaten habe sich auf ein jährliches Volumen von einer Billion US-Dollar verdreifacht, informiert das Wirtschaftsministerium. Wer also sind die Verlierer? Wer die Gewinner? Und was sagen diese Erfahrungen über das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP?
US-Firmen diktieren Preise
Am Sonntag, 24.4., eröffnen US-Präsident Obama und Bundeskanzlerin Merkel die Hannover-Messe. Sie sprechen auch über das umstrittenen Handelsabkommen TTIP, das die EU und die USA in diesem Sommer unter Dach und Fach bringen wollen. Kritiker fürchten, dass mit TTIP Konzerne mehr Macht bekommen und wichtige Verbraucher- und Umweltstandards sinken werden. Am Samstag wollen Zehntausende in Hannover protestieren. Die taz begleitet die Besuche mit einem TTIP-Special am Freitag.
Mit Beginn des Nafta-Vertrags senkten die Partnerstaaten zunächst ihre Handelszölle, seit 2008 sind die Abgaben ganz abgeschafft. Für Mexikos ländliche Regionen hatte das einschneidende Konsequenzen. Viele Mexikaner leben dort vom Anbau von Gemüse, Früchten oder Getreide. Gegen die billigen US-Importe können die kleinbäuerlichen Produzenten jedoch nicht konkurrieren. „Früher hat der Staat den Kleinbauern den Mais zu einem festgesetzten Preis abgekauft“, sagt Ana de Ita von der Nichtregierungsorganisation Ceccam.
Heute bestimmten nur noch die Multis die Preise. „Die zahlen keine Zölle mehr und werden von der US-Regierung immer noch hoch subventioniert“, kritisiert de Ita. 20 Prozent hat die mexikanische Agrarwirtschaft deshalb an Umsätzen eingebüßt. Umgekehrt ist der Import von Mais, dem wichtigsten Nahrungsmittel in Mexiko, zwischen 1994 und 2010 um 185 Prozent gestiegen, rechnet der Kleinbauernverband Unorca vor. Ähnlich sieht es bei Reis, Weizen und Bohnen aus. Und zunehmend wird gentechnisch manipulierter Mais importiert – mit fatalen Folgen für Mensch und Natur.
Denn Kleinbauern und Indigene unterscheiden nicht zwischen Saatgut und Ernte. Den Mais, den sie essen, säen sie wieder aus. Saatguthersteller wie Monsanto aber verbieten das ihren Kunden. Das macht Kleinbauern perspektivisch abhängig von Agrarkonzernen. Schon jetzt können sich Hunderttausende Campesino-Familien nicht mehr von ihren Äckern ernähren.
Viele migrieren in die USA oder sind für kriminelle Kartelle tätig. Andere ernten als Wanderarbeiter Blumen, Tomaten, Spargel oder Broccoli, die seit Nafta für den Export bestimmt sind. „Die Menschen schuften täglich oft 16 bis 18 Stunden unter der Sklaverei ähnlichen Bedingungen“, erklärt die auf Arbeitsrecht spezialisierte Anwältin Alejandra Ancheita.
„Perverse Arbeitsteilung“
Wirtschaftsprofessor Dussel spricht von einer „perversen“ Art der Arbeitsteilung: Mexiko stelle billige Arbeitskräfte zur Verfügung, um Produkte zu günstigen Preisen in die USA zu exportieren, importiere aber gleichzeitig massiv Lebensmittelprodukte aus dem Norden, um die Grundversorgung zu garantieren. Auch Hernández, Redakteur der Tageszeitung La Jornada, hält diese Handelspolitik für absurd: „Wir kaufen hier tiefgefrorene Himbeeren aus den USA, die in Mexiko gepflückt und dann dorthin ausgeführt wurden.“
Solche Entwicklungen sind bei TTIP wohl nicht zu erwarten. Zwar gibt es auch hier ein Einkommensgefälle – vor allem im Niedriglohnsektor –, aber mit den Verhältnissen auf dem amerikanischen Kontinent ist das nicht zu vergleichen. In den Vereinigten Staaten liegt der Mindestlohn bei 7,25 US-Dollar pro Stunde, in Kanada durchschnittlich etwas höher, in Mexiko dagegen müssen Arbeitgeber mindestens 70 Pesos (rund vier US-Dollar) am Tag zahlen.
Ein Grund, warum auch viele US-Firmen unmittelbar südlich der Grenze zu Mexiko Hemden, Elektroteile oder Airbags für den Weltmarkt produzieren lassen. In den „Maquiladoras“ schuften vor allem Mexikaner aus den verarmten ländlichen Regionen. Diese Jobs bringen dem Land – volkswirtschaftlich gesehen – jedoch wenig. Die teuren Vorprodukte werden woanders hergestellt, eine einheimische Zulieferindustrie ist bisher nicht entstanden.
„Auf den Laptops steht zwar ‚Made in Mexico‘, aber der Mehrwert für Mexiko ist gering“, kritisiert Dussel. Für die Unternehmen zählen nur die niedrigen Gehälter. Wenn wie jetzt asiatische Konkurrenten noch günstigere Arbeitskräfte anbieten, sind die Maquiladoras so schnell verschwunden, wie sie gekommen sind.
Schmerzhafte Erfahrungen in den USA
Fabrikarbeiter aus den USA können davon ein Lied singen. In Detroit gingen Zigtausende Arbeitsplätze verloren, Zulieferer machten pleite. Das hat auch mit dem Freihandelsvertrag zu tun: Viele Autoteile werden heute in den Maquiladores jenseits des Rio Grande hergestellt. Die Firmen zahlen dafür am Tag rund 100 Pesos – weniger als 6 US-Dollar. Von den damals versprochenen 200.000 neuen Stellen pro Jahr ist in Detroit wohl keine angekommen.
Wie auch jetzt bei TTIP befürchtet, rechneten auch damals Kritiker mit massivem Stellenabbau. Heute ist umstritten, ob das in den USA tatsächlich passierte. Das Washingtoner Economy Policy Institute spricht von 700.000 verlorenen Jobs, die Forschungsabteilung des US-Kongresses beschwichtigt: Nafta hätte nicht so viele Arbeitsplätze vernichtet wie befürchtet.
Die mexikanische Automobilindustrie jedoch profitierte von der Entwicklung. Die VW-Produktionsstätte in Puebla erfuhr mit Nafta einen Boom. Eine halbe Million Wagen vom Typ Jetta, Beetle und Golf laufen jährlich vom Band, viele gehen in die USA. Rund 15.000 Menschen sind im Werk beschäftigt zu Löhnen, die weit über den landesüblichen und sogar über dem Mindestlohn liegen.
Firmen wie General Motors, Chevrolet und BMW ziehen nach. Optimistisch weist eine Hochglanzbroschüre der Regierung in die Zukunft. „Mit dem Export von 2,6 Millionen Fahrzeugen ist Mexiko der viertgrößte Player weltweit“, heißt es da. Bis 2020 will man hinter Deutschland Platz 2 einnehmen.
VW-Stadt Puebla boomt
Solche Erfolge räumt selbst der linke Journalist Hernández ein, kritisiert aber: „Das Problem bleibt, dass wir vor allem billige Arbeitsplätze sowie Rohstoffe exportieren und 80 Prozent der Ausfuhren in die USA gehen.“ Er verweist darauf, dass die Umweltstandards de facto außer Kraft gesetzt worden seien: „Mexiko bietet den Unternehmen ein Umweltmoratorium.“
Verstöße würden praktisch nicht verfolgt. Die Naturschutzorganisation Sierra Club spricht von einem „Chill-Effekt“: Bei den Behörden sinke die Bereitschaft, gegen Umweltverschmutzungen vorzugehen, weil man sich keinen Ärger wegen des Verstoßes gegen Nafta-Regeln einhandeln wolle.
Geht der Staat dagegen vor oder erhöht die Auflagen, können die Konzerne, wie auch im Transatlantischen Freihandel TTIP vorgesehen, Schutzinvestitionsklagen gegen die Entscheidung der Regierung führen. Das ist mehrfach geschehen. So klagte die US-Firma Metalclad, weil ihr mexikanische Behörden den Betrieb einer Giftmülldeponie untersagt hatten. Sie bekam recht und erhielt eine Entschädigung von 16,7 Millionen US-Dollar.
Auch die Ethyl Corporation hat so ihre Interessen durchgesetzt. Das US-Unternehmen legte Klage auf Schadensersatz gegen die kanadische Regierung ein, weil sie kein Benzin mit dem giftigen Zusatzstoff MMT in das Land liefern durfte. Kanada hob daraufhin das Verbot auf und musste eine hohe Entschädigung zahlen.
Was sagen Mexikaner zu TTIP?
Investorenschutz auf Kosten der Umwelt, vernichtete Arbeitsplätze und ein steigender Einfluss großer Agrarbetriebe – die negativen Folgen des Freihandels sind gravierend. Sollten also die USA und die EU auf ihr Abkommen verzichten? Oder werden die Effekte nicht eintreten, weil hier relativ gleich starke Partner kooperieren?
Wirtschaftsprofessor Dussel stellt sich nicht grundsätzlich gegen solche Verträge, Nafta habe Mexikos Industrialisierung gefördert. Aber TTIP sollte nur mit starken Institutionen abgeschlossen werden. Es müsse die Möglichkeit geben, die Vereinbarungen immer wieder zu modifizieren. „Bei Nafta wurde seit 22 Jahren nichts nachverhandelt, obwohl die Fehlentwicklungen offensichtlich sind“, sagt Dussel.
Journalist Hernández rät den Europäern zur Skepsis: „Solange nicht garantiert ist, dass soziale Errungenschaften neoliberalen Reformen nicht zum Opfer fallen könnten, sollte das Abkommen nicht geschlossen werden.“
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