Freibad in Schwerte: Die Freischwimmer
Wegen fehlendem Personal und der Gaskrise müssen viele Freibäder schließen, doch das Elsebad nicht. Weil es von Bürger*innen selbst betrieben wird?
E in Samstag Mitte Juli, es ist kurz nach 9 Uhr. Der Himmel über Schwerte, einer Fast-50.000-Einwohner-Stadt südöstlich von Dortmund, ist bewölkt, es weht ein leichter Wind. Am Eingang des Bürgerbads Elsetal, das hier alle nur Elsebad nennen, hängt ein Schild: Luft 17 Grad, Wasser 23 Grad.
Das Elsebad ist das einzige Freibad von Schwerte, es liegt etwas außerhalb. Vom Bahnhof geht es mit dem Bus zum Stadtrand, dann über die Ruhr, bis in ein Waldgebiet. Mit seiner Holzvertäfelung sieht der Gebäudekomplex wie ein in die Länge gezogenes Schwedenhaus aus. Dahinter liegt das Schwimmbecken.
„Kommen Sie rein“, sagt Gerd, der Hausmeister, und öffnet die Gittertür. „Aber bitte noch nicht ins Wasser gehen. Das würde die Stammgäste tierisch ärgern, wenn vor ihnen jemand ins Becken darf.“ Vor dem Gitter warten die ersten Besucher: Eine sportlich wirkende Frau Ende siebzig, in rotem Rock und weißer Bluse. Ein kräftiger Mann Mitte fünfzig in grauen Shorts, in der Hand ein Fahrradhelm. Dahinter ein Mann, vielleicht zehn Jahre älter, gestutzter Schnauzer, randlose Brille, die Arme vor der Brust verschränkt. Man begrüßt sich mit „Guten Morgen“, ansonsten bleibt es still. Die Menschen sehen aus, als ob sie das Schwimmen sehr ernst nehmen. Als ob es für sie mehr ist als ein Zeitvertreib. Eher ein essenzieller Bestandteil des Lebens. Einer, den sie sich selbst erkämpft haben. Und ganz falsch ist das nicht: Denn wenn die Dinge anders gelaufen wären, damals, vor über 25 Jahren, stünde heute keiner von ihnen hier.
Vielen Schwimmbädern in Deutschland geht es schlecht, seit Jahrzehnten schon. Ihre Zahl schrumpft, vor allem in ländlichen Gebieten. Apokalyptische Stimmen sprechen gar von einem „Bädersterben“. Die Deutsche Gesellschaft für das Badewesen zählte 2017 noch 6.500 Bäder. Heute kommt sie auf knapp 6.000. Es gibt eine ganze Reihe von Problemen. Da ist zunächst die bauliche Substanz. Viele Bäder stammen aus den 1960er und 70er Jahren, der Zeit des „Goldenen Plans“, eines staatlichen Programms, das viel Geld in Sporteinrichtungen spülte. Doch nachdem die Anlagen gebaut waren, vernachlässigte man Pflege und Instandsetzung. Mit dem Ergebnis, dass viele Bäder heute marode sind. Hinzu kommt das Personalproblem.
Das Freibad als Urlaubsersatz
Schon vor Corona gab es einen Mangel an Fachkräften. Die pandemiebedingte Schließung vieler Bäder hat den noch einmal verschärft. Weil sich viele Menschen in der Zwischenzeit beruflich umorientierten, aber auch, weil mit den Bädern die Ausbildungsstätten geschlossen waren. Dabei stehen Schwimmbäder in Deutschland eh auf wackligem Posten. Im Haushalt der Kommunen zählen sie zu den „freiwilligen Ausgaben“. Hat die Gemeinde kein Geld, macht sie oft zuerst die Bäder dicht. Durch die Energiekrise sind die Bäder nun endgültig in Bedrängnis geraten. Sollte die dritte Stufe des Notfallplans Gas ausgerufen werden, müssen sie vermutlich mit als Erstes schließen.
Das ist ein größeres Problem, als man zunächst denken könnte. „Schwimmbäder sind mehr als reine Sportstätten“, sagt Sportwissenschaftler Lutz Thieme, der an der Hochschule Koblenz zu Schwimmbädern forscht, am Telefon. „Viele Kinder werden hier an das Schwimmen herangeführt. Es geht um Fragen der persönlichen Sicherheit und der gesellschaftlichen Teilhabe.“
Schwimmbäder seien aber auch ein Ort der Begegnung, vor allem Freibäder. „Weil sie einer der letzten Orte sind, wo man Menschen quer aus allen gesellschaftlichen Schichten trifft“, sagt Thieme. „Wohlhabendere Leute, aber auch Menschen, für die der Freibadbesuch notgedrungen den Strandurlaub ersetzt.“ Brechen Schwimmbäder, Büchereien, Spielplätze und andere Räume des sozialen Austauschs weg, drohe im Ernstfall die Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, warnt er.
Personalmangel, Gaskrise, drohender Zerfall: Im Elsebad begegnet man alldem erstaunlich gelassen. Vielleicht, weil man schwierige Zeiten kennt. Die Geschichte des Elsebads ist die Geschichte einer kleinen Wiederauferstehung. Es ist die Geschichte eines Schwimmbads, für das die Stadt keine Zukunft mehr sah. Aber für das die Bürger:innen bereit waren zu kämpfen. Es ist die Geschichte des ersten erfolgreichen Bürgerbegehrens Nordrhein-Westfalens und, nicht zuletzt, die Geschichte des wohl bekanntesten „Bürgerbads“ Deutschlands. Eines Schwimmbades also, bei dem nicht die Kommune, sondern vor allem die Bürger:innen in der Verantwortung stehen. Bei dem sie die anfallenden Arbeiten selbst verrichten und oft auch einen Großteil der Finanzen stemmen.
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Woher das Modell kommt, kann niemand genau sagen. Das erste deutsche Bürgerbad, das „Freibad Bornekamp“, eröffnete vor 40 Jahren in Unna, ebenfalls im Ruhrgebiet. Wie viele dieser Bäder es in Deutschland gibt, lässt sich nicht bestimmen. Lutz Thieme schätzt, dass es mindestens hundert sind.
Kann ein Bürgerbad wie das Elsebad die Lösung sein für all die Probleme, vor denen Schwimmbäder in Deutschland heute stehen? Eine Blaupause für die Zukunft?
9.30 Uhr. Das Bad öffnet offiziell seine Pforten. Wie in den meisten Freibädern will auch hier jeder der Erste im Wasser sein. Ein wahrer Run auf das Becken beginnt. Der Mann mit dem Fahrradhelm scheint es besonders eilig zu haben. Zügig geht er auf das Gelände, zückt routiniert seine Dauerkarte, eilt an der Kasse vorbei, steuert direkt auf das Becken zu. Er steigt aus den Schuhen, zieht die Hose runter, zuppelt seine Badeshorts zurecht. Dann sucht er in seinem Rucksack nach der Chlorbrille. Zu spät: Zwei Frauen, die eine um die 40, die andere über 60, überholen ihn. Sie sind an diesem Tag die ersten beiden Gäste im Becken.
Wenig später sind ein halbes Dutzend Menschen im Wasser. Im großen Becken ziehen Frauen ihre Bahnen, sie halten die Köpfe gereckt. Im abgetrennten Profibereich kraulen die Männer. Das Wetter hat sich etwas aufgeklart, das lauteste Geräusch ist das Gurgeln der Rinne ab Beckenrand, die gierig das überschwappende Wasser schluckt. Ansonsten ist es still.
Das Elsebad ist ein Oldtimer unter den deutschen Schwimmbädern. 1939 wurde es, mit finanzieller Unterstützung der beiden größten Arbeitgeber der Region, des Stahlwerks und der Kettenfabrik, eröffnet. Es war für die Arbeiterschaft und die Jugend der Gegend gedacht. Betrieben wurde es damals noch mit Wasser des in der Nähe fließenden Elsebachs. In den Nachkriegsjahren entwickelte sich das Elsebad zu einem bedeutenden Teil des Schwerter Lebens. Doch dann, Anfang der Neunziger, gab die Stadt ein Gutachten in Auftrag, um zu eruieren, ob sich so ein Freibad überhaupt lohnt. Und kam zu dem Ergebnis: Tut es nicht. Was sich hingegen lohnen würde, so die Vermutung, wäre ein großes Freizeit- und Erlebnisbad, das auch Kunden aus Dortmund anziehen könnte. Und so steckte die Stadt fast 9 Millionen Euro in das „Freizeit- und Allwetterbad“ mit Saunalandschaft und riesiger Rutsche. Und machte 1993 dafür das Elsebad und zwei weitere Freibäder in der Region dicht.
An dieser Stelle tritt Hartwig Carls-Kramp in die Geschichte. Ein stämmiger Mann von 71 Jahren. Beim Treffen sitzt er am Beckenrand, bietet einem schnell das Du an.
Hartwig ist einer dieser Menschen, die mit offenen Augen durch den Alltag gehen. Die wissen, wenn eine Ampelschaltung im Ort schlecht getaktet ist, die sehen, wenn ein Radweg ungünstig verläuft, die auf dem neusten Stand sind, was die Sanierung der Stadtkirche angeht. Und die dann wissen, wie es besser geht. Und er ist einer der Menschen, die dafür verantwortlich sind, dass aus dem traditionellen Elsebad das Paradebeispiel eines Bürgerbads geworden ist. Ein weiter Weg.
Vom Chirurgen zum Schwimmbadbetreiber
Hartwig kommt eigentlich aus Essen, aus Überruhr, einer Bergarbeitersiedlung im Südosten der Stadt. Der Vater war Bergmann, die Mutter Hausfrau. Nach dem Abitur jobbte er als Pfleger in einer Krebsklinik, entschied sich dabei, Medizin zu studieren. Ende der Achtziger zog er mit seiner Frau nach Schwerte, sie stammt von hier, und begann als Oberarzt in einer Klinik in der Nähe. Zu jener Zeit trafen sich in einer der Dorfkneipen eine Reihe von Akademikern aus dem Ort. Ärzte, Lehrer, Notare. Auch Hartwigs Schwager war dabei, über ihn stieß er dazu. Sie diskutierten damals auch über die Zukunft des Bads. „Ist doch scheiße, wenn es dicht bleibt, haben wir gedacht“, sagt Hartwig heute. „Da hängen so viele Erinnerungen dran.“
Der Stadtrat war gespalten, die eine Hälfte wollte das Bad weiterbetreiben, die andere war dagegen. Also beschlossen Hartwig und die anderen, die Gegner des Bades zu überzeugen – und in der Bevölkerung Unterschriften für den Erhalt zu sammeln. Sie waren gut vernetzt. Mitglieder der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), der Jusos und Teile der Chefetage eines großen Familienunternehmens bauten Infostände auf, sprachen Passanten an, legten in Geschäften Listen aus. Das Land Nordrhein-Westfalen hatte kurz zuvor das Instrument des Bürgerbegehrens eingeführt, es erlaubte Bürger:innen, direkt in die Kommunalpolitik einzugreifen. Sie waren die ersten, die es nutzten.
Innerhalb von drei Wochen hatten sie 10.000 Unterschriften beisammen, mehr als für ein Bürgerbegehren notwendig war. Sie übergaben sie im Rathaus der Stadt. Der nächste Schritt wäre ein Bürgerentscheid, also eine offizielle Abstimmung, gewesen. Doch die Stadt zögerte. „Ein Bürgerentscheid hätte so viel gekostet wie eine Bürgermeister- oder Stadtratswahl“, sagt Hartwig. „Und sie wussten, dass sie eh keine Chance haben.“ Also ließ die Stadt es gar nicht erst so weit kommen. Na gut, sagte sie, dann macht. Aber macht allein. Wir haben damit nichts zu tun.
Für Hartwig und die anderen ein Sieg. Aber einer mit Folgen. Sie waren ja einfache Bürger. Keiner von ihnen hatte einen konkreten Plan, wie man ein Schwimmbad wiedereröffnet.
11.43 Uhr. Das Publikum an diesem Samstag hat sich inzwischen verändert. Die Profischwimmer und die älteren Frauen sind weg. Statt ihrer sieht man jetzt viele Familien im Becken. Auch die Liegewiese füllt sich langsam. Drei Männer Ende vierzig sitzen unter einem Baum und öffnen ihre Picknickdosen. Ein Paar um die zwanzig versucht sich kurz am Rasen-Schach, einer der vielen Freizeitmöglichkeiten, die es im Elsebad gibt. Wenig später tauchen die ersten Halbstarken auf, vier Jungs, ein Mädchen, alle um die vierzehn.
Spricht man mit den Menschen hier, betonen alle, wie wichtig ihnen das Freibad ist, besonders wenn sie keinen eigenen Garten haben. Weil es ein Ort der Ruhe ist, der Entspannung, für die Jungen ein beliebter Treffpunkt.
Wenn man heute durch das Elsebad läuft, durchstreift man ein weites Areal. Es gibt ein 50-Meter-Becken samt 1-Meter-Brett, ein kleineres Kinderbecken, zwei Volleyballfelder und einen Fußballplatz, es gibt einen Kiosk und einen Clubraum mit Plastikstühlen, die „Elsebar“. Alles ist sauber, gepflegt. Vieles wirkt liebevoller, individueller als in einem kommunalen Schwimmbad: Die Umkleiden leuchten rot, grün und blau. Selbst die Mülltonnen sind bunt angemalt.
Damals, als die Bürger:innen das Bad übernahmen, sah das anders aus. Dort, wo heute der langgezogene bordeauxrote Häuserriegel steht, gab es zwei kleine Häuser ohne Fenster, sie glichen Ruinen. Auch das Schwimmbecken war hinüber, die Fliesen abgeplatzt.
Als 1996 die Bauarbeiten begannen, stand Hartwig als Chirurg mitten im Arbeitsleben, wie die anderen auch. Also kamen sie an den Wochenenden, zogen Gräben, verlegten Rohre, bauten drei Baucontainer zu einem Kiosk um. Maurer waren dabei, Klempner, Elektriker. Aber auch Lehrer, die jetzt Löcher gruben und Schubkarren über das Areal schoben.
Im Mai 1998, nach zwei Jahren Bauzeit, war Eröffnung. Einige tausend Bürger:innen waren gekommen, der örtliche Posaunenchor war angerückt. „Ein großer Moment“, sagt Hartwig. „Wir hatten endlich unser Bad.“
Rund zwei Millionen D-Mark hatte der Bau gekostet. Gut ein Drittel kam von der Stadt, ein weiteres Drittel vom Land, das restliche Drittel hatten sie selbst beigesteuert, teils über Kredite. „Die Leute hatten einfach eine besondere Beziehung zu dem Bad“, sagt Hartwig. „Viele haben ihre Jugend hier verbracht. Sie wollten ein Stück Vergangenheit erhalten und zugleich sicherstellen, dass es den Ort auch noch für ihre Kinder und Enkelkinder gibt.“
Hartwig, inzwischen Rentner, ist heute einer von drei Geschäftsführern des Elsebads, sie führen es als gemeinnützige GmbH. 300.000 Euro kostet der Betrieb des Bads inzwischen jährlich. 60.000 kommen von der Stadt. Den Rest müssen sie selbst stemmen. Etwa 30.000 gibt der Förderverein; was übrig bleibt, muss über die Eintrittsgelder erwirtschaftet werden. Am Ende, sagt Hartwig, lande man bei plusminusnull. „Das ist schon okay.“
Das Elsebad ist damit keine Ausnahme. „Mit Bädern ist in Deutschland kein Geld zu verdienen“, sagt Lutz Thieme, der Sportwissenschaftler. Das gelte für kommunale Bäder wie Bürgerbäder gleichermaßen. Im Gegensatz zu kommunalen Bädern könnten Bürgerbäder das Problem der klammen Kassen aber ein Stück weit kompensieren. Durch die enge Bindung der Besucher an das Bad – und durch ehrenamtliches Engagement. „Da geht es dann nicht um Geld gegen Arbeitszeit“, sagt Thieme. „Da geht es um eine freiwillige Gabe für einen Ort, der einem wichtig ist.“ Und das ist im Elsebad spürbar, etwa beim Thema Personalmangel.
Überall in Deutschland mussten Bäder schließen, weil es nicht genügend Personal gibt. Einige für immer, andere zumindest für kurze Zeit. In Essen konnte die Freibadsaison dieses Jahr deshalb erst später beginnen. In Dortmund blieben mehrere Hallenbäder kurzzeitig dicht. Vor allem Bademeister werden gesucht. Vielen gilt der Beruf als nicht attraktiv genug, wegen der unregelmäßigen Arbeitszeiten, des vergleichsweise geringen Verdienstes. Aber auch Rettungsschwimmer fehlen.
Im Elsebad hingegen scheint auch der Fachkräfte- und Nachwuchsmangel kein drängendes Problem zu sein. Hendrik, der Fachangestellte für Bäderbetriebe, der den gesamten Laden schmeißt, der Temperatur und Chlorgehalt des Wassers im Blick hat, die Pumpen, aber auch die Sicherheit der Badegäste, ist 24 Jahre alt. Anna, die Rettungsschwimmerin, die ihm an diesem Samstag zur Seite steht und das alles neben ihrem Studium macht, ist 21.
Fragt man beide, warum sie hier sind, erzählen sie, wie sie in der Gegend groß geworden sind, teilweise sogar schwimmen gelernt haben im Elsebad. Und dass so etwas eben zusammenschweißt. Neben den beiden gibt es noch einen Schwimmmeister und elf weitere Rettungsschwimmer im Team. Und rund 140 Ehrenamtliche, die sich um alles andere kümmern, das in so einem großen Schwimmbad anfällt, vom Kassendienst bis hin zum Müllaufsammeln.
12.15 Uhr. Gerd, der Hausmeister, macht kurz Pause. Bis eben hat er die Hecken geschnitten. Jetzt sitzt er unter dem Vordach der „Elsebar“, im hinteren Bereich des Areals, und lässt seinen Blick über den sich wieder zuziehenden Himmel schweifen.
„Das wird heute ein absolut durchschnittlicher Tag“, sagt er.
„Kannste von ausgehen“, sagt der grauhaarige Mann neben ihm. Auch er heißt Gerd.
Die zwei Gerds sind fester Teil des Teams und gewissermaßen hier gestrandet. Der eine, Gerd mit den grauen Haaren, weil er es als Rentner nicht mehr ausgehalten hat zu Haus. Der andere, Gerd, der Hausmeister, weil sein Leben durcheinandergeraten war. Mehr muss dazu nicht in der Zeitung stehen, sagt er.
Nur so viel: Als Hartwig und die anderen Mitte der Neunziger mit dem Umbau des Bads begannen, arbeitete Gerd als Monteur. Er hatte eine große Rüttelmaschine, mit der man große Flächen verdichten kann. Die konnten sie gut gebrauchen. Also stieß er dazu, packte selbst mit an. Und blieb irgendwann.
Wie oft sie hier sind? „Eigentlich immer“, sagt der grauhaarige Gerd, den sie „Rembrandt“ nennen, weil er für das Malern und Lackieren zuständig ist. „Oft den ganzen Tag.“
„Aber natürlich mit Pausen“, sagt Gerd, der Hausmeister, der heute 59 ist. „Man kann ja nicht durcharbeiten.“
Und dann erzählen sie von damals, von jenem Wochenende im Sommer 2003, als 4.200 Gäste an einem Tag ins Bad kamen. Bis über den Parkplatz reichte die Schlange an Wartenden, das Becken war bis zum Bersten gefüllt, es sei eine Mordsarbeit gewesen, alles wieder schnell genug sauber zu bekommen, sagt Gerd, der Hausmeister, weil am nächsten Morgen ja wieder Gäste auf der Matte standen. Dann erzählt der grauhaarige Gerd von dem Operettenabend letztens, als eine Sängerin aus der Region hier im Bad ein Lied von Whitney Houston sang. „Wenn man die Augen zugemacht hat, dachte man, da singt die Houston selbst“, sagt er. Wenn man den beiden Gerds eine Weile zuhört, bekommt man ein Gespür dafür, welche Bedeutung das Elsebad hat. Für sie. Aber auch für die Menschen hier.
Schwerte ist auf den ersten Blick keine außergewöhnliche Stadt. Ein Bahnhof mit viel Nachkriegsbeton drum herum, ein historischer Stadtkern, eine Fußgängerzone. Wer hier mit dem Bus fährt, sieht ältere Damen mit aufwendig frisierten Haaren und junge Menschen in Trainingshosen, mit Energy-Drinks oder Dosenbier in der Hand. Es ist keine arme Stadt, sie zählt zu den einkommensstärkeren Gemeinden Nordrhein-Westfalens. Und doch passiert mit Schwerte, was mit vielen deutschen Klein- und Mittelstädten geschieht: Die Stadt dünnt aus. Da ist das ehemalige Kaufhaus am Bahnhof, ein Schild an der vergilbten Eingangstür informiert, dass es im Juni 2017 schließen wird. Der Blumenladen, dicht, weil niemand ihn übernehmen wollte, als die Inhaberin in Rente ging. Der Elektroladen: hat sich nicht mehr rentiert. Auch die Kneipen schließen, vor allem in den Randgebieten. Ein Kino gibt es schon seit Jahren nicht mehr.
Das Elsebad füllt einige dieser Lücken. Etwa wenn sie samstags Cocktail-Abend machen und auch Menschen ins Freibad kommen, die es nicht ins Wasser zieht. Oder freitags, wenn sie die große Leinwand aufspannen zum Open-Air-Kino. Es gibt Theateraufführungen hier, Yoga- und Zumba-Kurse. Im Wald hinter dem Kinderbecken haben sie ein mittelalterliches Dorf aufgebaut, jeden Herbst finden dort historische Spiele statt.
Ein Knotenpunkt für alle Aktivitäten
Für Lutz Thieme, den Sportwissenschaftler, nicht ungewöhnlich für ein Bürgerbad: „Wenn es eine enge Anbindung an die Bürgerschaft gibt, setzt die sich in der Regel auch für kulturelle Angebote ein.“ Das Elsebad ist damit nicht nur Knotenpunkt für all diese Aktivitäten. Es ist auch Anlaufstelle für Menschen verschiedenster Altersstufen und gesellschaftlicher Schichten. Da wären: der Verfahrensmechaniker aus dem Stahlwerk, der nach dem Schichtdienst morgens ins Wasser geht, um den Kopf frei zu kriegen. Die pensionierte Lehrerin, die sich leise aus dem Haus schleicht, um ihre Enkel nicht zu wecken. Der 17-jährige Abiturient, der hier Schwimmwettbewerbe gewonnen hat und jetzt einem Jungen Nachhilfe gibt. Da ist der Bundesvorsitzende der Senioren-Union, der gegen Abend stoisch seine Bahnen zieht. Die Frau Mitte sechzig, die fast täglich kommt, manchmal stundenlang auf der Bank sitzt und Kreuzworträtsel löst; und von der sie meinen, sie schlafe vielleicht in ihrem Auto.
Und da war bis vor Kurzem auch Else.
Else Lemmes lebt am Stadtrand von Schwerte, in einem weißen Einfamilienhaus. Wenn man an der Tür klingelt, öffnet eine Frau von 95 Jahren, auf einen Rollator gestützt. Eine Frau, die sich mit vorsichtigen Schritten bewegt. Dafür aber frei und ausführlich von ihrem Leben in Schwerte erzählt, im Dialekt der Region.
Ihre Erzählung zeigt, welche Lebensgeschichten mit Freibädern verbunden sind, vor allem in kleineren Gemeinden. Und was verloren geht, wenn es diese Orte nicht mehr gibt.
Eine „Wucht“ sei das Bad gewesen, sagt Else in ihrem Wohnzimmer voller Bücher und Fotos. Und das seit der Eröffnung 1939. In Scharen seien die Menschen mit dem Zug aus Dortmund gekommen, vor allem aus Gegenden, in denen es kein so großes Schwimmbad gab, sonntags sogar in ihren besten Klamotten. Für sie und ihre Freunde war das Bad ein wichtiger Treffpunkt. „Man musste sich nicht einmal verabreden“, sagt sie, „man war einfach immer da.“ Es war die Zeit der Jugend, eine unbeschwerte Zeit, fast.
Es war auch die Zeit des Krieges. Zuerst wurde der Schwimmmeister eingezogen. Nach und nach waren die jungen Männer in ihrem Freundeskreis dran. Die Reihen lichteten sich. „Wenn einer länger nicht geschrieben hat, ging man davon aus, er ist tot“, sagt Else. Es war ein kompliziertes Nebeneinander von Gefühlen. „Wir wussten, im Krieg werden Menschen totgeschossen“, sagt sie, „unausweichlich“, nennt sie das. Sie sagt aber auch: „Die Jugend ist halt lebensfroh.“ Es habe ein Sprichwort gegeben damals: „Bange machen gilt nicht.“ 1944 lernte sie ihren Mann Günter kennen, ebenfalls im Elsebad. Er hatte sein Handtuch vergessen, sie teilte ihrs mit ihm. Sie wurden ein Paar. Kurze Zeit später wurde auch er eingezogen, kehrte aber zurück.
Dann die Nachkriegsjahre. Ihr Mann wurde Leiter eines Rechnungsbüros, sie Hausfrau. Sie bekamen zwei Kinder. Mit ihnen verbrachte sie zwischen Mai und September, wenn das Bad geöffnet war, fast jeden Tag hier, zusammen mit den anderen Müttern. Sobald ihr Mann Feierabend hatte, kam er nach. Als die Stadt das Bad in den Neunzigern dichtmachte und Hartwig und die anderen Unterschriften für den Erhalt sammelten, waren auch Else und ihr Mann dabei. „Die Menschen haben die Straßenseite gewechselt, wenn sie mich gesehen haben“, sagt sie heute und lacht. „So energisch habe ich sie bequatscht, zu unterschreiben.“
Das Bad lag ihr aus mehreren Gründen am Herzen. Else ist eine ausgezeichnete Schwimmerin, von Kindheit an. Sie nahm im Elsebad Schwimmprüfungen ab, wurde später Schwimmlehrerin an einer Schule im Ort. Auch im Alter bleibt sie dem Sport treu, holte mehrmals Gold bei den Seniorenmeisterschaften der DLRG.
Doch dann kamen die Katastrophen. Erst Corona. Dann die Flut letztes Jahr, sie ließ den Elsebach über seine Ufer treten, der Bolzplatz, die Liegewiese, alles stand unter Wasser, teils bis über die Hüften. Ein Totalschaden. Das Bad überlebte ihn nur, weil die Menschen im Ort wieder mit anpackten und Geld spendeten. Im März dieses Jahres dann starb Elses Mann. Inzwischen schafft sie es nicht mehr ins Elsebad. Aber sie denke gern an die Zeit dort zurück, sagt sie, auch an die Zeit der Wiedereröffnung, damals vor über 25 Jahren.
Für Schwimmbäder in Deutschland zeichnet sich derweil die nächste Prüfung ab. Aufgrund der Energiekrise haben die ersten Bäder vorübergehend dichtgemacht. Allein in Baden-Württemberg sind 45 Bäder wegen der gestiegenen Energiepreise von einer Schließung bedroht. Größtenteils sind das Hallenbäder, aber auch an Freibädern geht die Krise nicht vorbei.
Im Elsebad scheint auch das erst mal weit weg. Das Bad hat seit über zehn Jahren eine Solarthermieanlage auf dem Dach. Wirklich nennenswerte Heizkosten fallen erst wieder im Frühjahr an, bevor das Bad eröffnet wird und es ans Anheizen geht, weil die Temperaturen dann noch deutlich zu niedrig sind.
Ein Bad, umweltfreundlich betrieben, am Laufen gehalten mit bürgerschaftlichem Engagement – ist das der Ausweg aus der Krise, in der Schwimmbäder heute stecken?
Hartwig zumindest sieht vor allem Vorteile. Etwa den Umstand, dass in einem Bürgerbad vieles unbürokratischer läuft. So müsse bei kommunalen Bädern jede größere Investition über ein aufwendiges Verfahren ausgeschrieben werden. Bürgerbäder könnten sich diesen Weg sparen, sagt er, vieles laufe über private Kontakte, über Firmen aus der Region.
Dabei kann man ein Bürgerbad auch kritisch sehen. Man kann zum Beispiel fragen: Ist es wirklich Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger, ein Bad am Laufen zu halten? Sollte das nicht Aufgabe der Kommune sein?
Karl-Heinz Schimpf sitzt im Vorstand der Partei Die Linke in Schwerte. Das Engagement der Elsebad-Betreiber sei im Ort hoch angesehen, sagt er. „Aber die Stadt hat sich damit auch einen schmalen Fuß gemacht.“ Eine jährliche Investition von 60.000 Euro sei einfach zu wenig, die Stadt solle die Unterstützung deutlich erhöhen.
Die Soziologin Tine Haubner forscht an der Universität Jena zum Strukturwandel des Wohlfahrtstaates – und zur Rolle, die freiwilliges Engagement dabei einnimmt. Denn es betrifft ja nicht nur Schwimmbäder. Besonders in weniger urbanen Gebieten stehen häufig auch Museen und Bibliotheken vor dem Aus.
Diese Entwicklung weg von einem „Leistungsstaat“ hin zu einem „auf die Aktivierung der Eigenverantwortung der Bürger*innen drängenden Staat“ habe in Deutschland in den Neunzigern eingesetzt, schreibt Haubner auf Nachfrage per E-Mail. Leistungen wurden gekürzt, mehr Eigeninitiative der Bürger:innen eingefordert. Oftmals haben diese die entstandenen Lücken auch gefüllt.
Aber macht es sich der Staat damit nicht zu leicht? „Bürgerschaftliches Engagement ist eine freiwillige, gemeinwohlbezogene Tätigkeit, die kein Ausfallbürge eines sich zurückziehenden Staates sein sollte“, schreibt Haubner. Wenn Ehrenamtliche zum Stützpfeiler würden, drohten sie überfordert und instrumentalisiert zu werden.
Auch Lutz Thieme, der Sportwissenschaftler, sagt: „Eigentlich sollte ein Schwimmbad Aufgabe der Kommune sein.“ Wenn aber partout die finanziellen Möglichkeiten fehlen würden, könne auch eine Mischform die Lösung sein: Die Gemeinde würde dann Bau und Betrieb der Anlage übernehmen – und die Bürger das Personal stellen.
Mitgeschäftsführer Hartwig drosselt bei dem Thema die Geschwindigkeit, mit der er sonst über das Bad spricht. „Natürlich sollte sich die Kommune um ihre Bäder kümmern“, sagt er. „Wir propagieren das Bürgerbad auch nicht als Alternative zu einem rein kommunalen Bad. Wir propagieren es als Alternative zur Schließung.“ Was passieren würde, wenn sie der Stadt die Verantwortung übertragen würden? „Dann wäre das Bad dicht“, sagt er.
19.25 Uhr. Die Halbstarken drehen noch mal auf. Die Jungs springen vom 1-Meter-Brett. Sie gehören zu den Letzten hier. Familien mit kleinen Kindern sind schon abgezogen, die Liegewiese ist so gut wie leer. Zehn Minuten später ist niemand mehr im Becken. Die Sonne steht tief, das gierige Schlucken der Wasserrinne ist wieder das lauteste Geräusch.
Gerd, der Hausmeister, steht gemächlich auf. „Werd mal Feierabend machen“, sagt er und kommt noch mit zur Gittertür. Wann er morgen arbeiten muss? „Müssen tue ich gar nichts“, sagt er. „Aber ich werd gegen halb zehn wohl wieder auf der Matte stehen.“
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