Franziska Giffey soll Berlins SPD retten: Schnell noch das Ruder rumreißen
Am Samstag sollen die Familienministerin und Raed Saleh zur neuen SPD-Doppelspitze gewählt werden. Aber tragen die Genossen den Rechtsschwenk mit?
Dass der Ton bei der SPD künftig mehr in Richtung CDU als Grüne und Linke gehen wird, darauf haben Giffey und Saleh die Genossinnen und Genossen bereits eingestimmt. In einem Interview im Tagesspiegel forderten sie unter anderem mehr Polizei gegen Linksextremisten, den Bau des umstrittenen Karstadt-Projekts am Herrmannplatz und den Bau neuer U-Bahn-Linien. Zuvor hatte Saleh bereits betont, die Verkehrswende des rot-rot-grünen Senats ausbremsen zu wollen.
Fast schon genüsslich stellte der CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner am Wochenende daraufhin die Frage nach dem Original und der Kopie. „Was die künftige SPD-Landesspitze vorschlägt, steht im diametralen Gegensatz zu dem, was die Sozialdemokraten in den letzten Jahren gemacht haben“, sagte Wegner ebenfalls dem Tagesspiegel. „Offenbar war aus Sicht von Frau Giffey und Herrn Saleh die Senatspolitik von Rot-Rot-Grün falsch. Diese Einschätzung teile ich.“
Mehr Polizei und ein Herz für U-Bahnen und Autofahrer: Selbst wenn die Berliner SPD dabei beansprucht, das Original und nicht die Kopie zu sein, stellt sich doch die Frage, ob die designierte Landesvorsitzende und Spitzenkandidatin sowie ihr Mehrheitsbeschaffer für eine solche politische Kehrtwende überhaupt genug Rückhalt in ihrer Partei haben?
Einen ersten Vorgeschmack auf ungemütliche Zeiten bekamen die Spitzensozis bereits am Freitag. Nicht der von Giffey favorisierte ehemalige Kulturstaatssekretär Tim Renner geht für die Neuköllner SPD ins Rennen um ein Bundestagsmandat. Sieger der Mitgliederbefragung wurde der lokal bestens vernetzte 35-jährige Hakan Demir. Demir bekam 51,95 Prozent der abgegebenen Stimmen, Renner 45,18 Prozent.
Der Termin Im Herbst 2021 werden Bundestag und Berliner Abgeordnetenhaus am gleichen Tag gewählt. Ein möglicher Termin wäre der 26. September.
Die Ausgangslage Rot-Rot-Grün verfügt in Umfragen seit Jahren über eine stabile Mehrheit. CDU – und erst recht FDP und AfD – sind politisch blass geblieben. Vieles deutet also auf eine Neuauflage der bisherigen Koalition hin, allerdings unter anderen Vorzeichen: Die Grünen, für die Bettina Jarasch als Spitzenkandidatin ins Rennen geht, liegen in Umfragen klar vor der SPD und würden nach derzeitigem Stand damit die Regierende Bürgermeisterin stellen. (taz)
In einem Jahr wird in Berlin gewählt. Laut jüngsten Umfragen steht die SPD zwischen 15 und 18 Prozent, die Grünen kommen auf Werte zwischen 20 und 26 Prozent, die CDU liegt bei 21 oder 22 Prozent und die Linke bei 15 bis 16 Prozent. Wenn Franziska Giffey Regierende Bürgermeisterin werden will, muss die SPD also noch gewaltig aufholen. Der Kurswechsel nach rechts ist dabei fast ihr letzter Schuss. Denn ihre Nominierung als Kandidatin für eine Doppelspitze des SPD-Landesverbands hat sich bislang in den Umfragen nicht zugunsten der SPD abgebildet. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es ein offenes Geheimnis ist, dass Giffey im Dezember offiziell zur Spitzenkandidatin für die Wahl zum Abgeordnetenhaus gekürt wird.
Das Kalkül, die beliebte Bundesministerin werde auch zum Zugpferd in der Landespolitik, muss also nicht zwingend aufgehen. Stattdessen könnte die Schlappe in Neukölln zur Blaupause eines Konflikts werden, der die SPD den ganzen Wahlkampf über begleitet: Eine rechte Führungsriege wird von der linken Parteibasis getrieben. Was, wenn sich zum Beispiel die Forderungen von Giffey und Saleh nicht im Wahlprogramm der SPD wiederfinden?
Mit dem Rechtsschwenk geht die SPD ins Risiko. Noch riskanter aber könnte ein bloßes Weiter-so sein. Denn die hypothetische Annahme, dass sich die SPD in einem Jahr als Juniorpartnerin in einer grün-rot-roten Koalition wiederfindet, wäre damit fast schon ein Automatismus. Eine Wiedervorlage einer Koalition mit der CDU wiederum würde an der sozialdemokratischen Basis kaum Zustimmung finden.
Auch die CDU hat nicht allzu viele Optionen. Sollte sie auf dem Bundestrend mitsurfen und stärkste Partei werden, könnte sie sogar am eigenen Erfolg verzweifeln. Denn eine Koalition mit den Grünen wäre für diese nur vermittelbar, wenn ihre Spitzenkandidatin Bettina Jarasch Regierende Bürgermeisterin würde. Liegen die Grünen hinter der CDU, spricht dagegen alles für Verhandlungen mit SPD und Linken. Erst recht, wenn die Grünen ihre guten Umfragewerte einmal über die Ziellinie bringen und stärker werden als die SPD. In diesem Fall würde sich Giffey die Frage stellen, ob sie als Senatorin in ein Kabinett Jarasch eintritt – etwa als Bildungssenatorin.
Auch wenn Grüne, Linke und SPD eine stabile Mehrheit haben und es keine Wechselstimmung gibt, dürfte der Wahlkampf härter werden als zuvor. Statt eines Koalitionswahlkampfes steht ein Lagerwahlkampf bevor mit der CDU und der SPD auf der einen Seite und den Grünen und der Linken auf der anderen. Das Besondere: Niemand darf die Parteien aus dem anderen Lager zu scharf attackieren. Denn kommt es zum Schwur, müssen Grüne und SPD oder Grüne und CDU sich zusammenraufen.
Einen ersten Vorgeschmack auf einen solchen Lagerwahlkampf mit Samthandschuhen gab bereits Kai Wegner. Er sagte am Wochenende: „Ich habe Sympathien für einige Grüne.“
Und am kommenden Wochenende gibt es den ersten Vorgeschmack für die SPD. Giffey wird sicher ein gutes Ergebnis bekommen. Aber bei Saleh rechnen viele Genossen nicht mit mehr als 60 Prozent.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“