Frankreichs Präsident besucht Calais: Die Wartenden am Ärmelkanal
Am Ärmelkanal warten wieder Migranten auf eine Chance zur Reise nach England. Es sind wenige, aber die Lage ist noch immer verzweifelt.
Vor dem Loch gehen an diesem diesigen Morgen jene vorbei, die es hier eigentlich gar nicht mehr geben soll: die Transitmigranten, von denen die Verwaltung in Calais vor etwas mehr als einem Jahr glaubte, sich ihrer entledigt zu haben. In der Stadt Calais hält hat man diesen Anschein tatsächlich weitgehend aufrecht, denn dort sieht man kaum noch Migranten. Doch rund um einen Kreisverkehr draußen am Stadion, zwischen Autobahn und Industriegebiet, streifen sie wieder in Zweier- und Dreiergrüppchen herum, die Kapuzen hochgezogen gegen die beißende Kälte. Eine Gruppe kauert in der Böschung der Autobahnbrücke und blickt den Lastwagen hinterher. Sie alle eint der Traum von einem besseren Leben in Großbritannien.
Calais hat sein Problem nur an den Rand gedrängt. Dort aber zeigt es sich offen. Genau deshalb ist Emmanuel Macron in die Stadt gekommen. Wenn französische Staatspräsidenten sich hierher begeben, liegt das in der Regel an den Transitmigranten.
Als Macrons Vorgänger François Hollande im Spätsommer 2016 anrückte, kündigte er an, den „Jungle“ zu räumen, jenes wilde Lager, in dem Tausende Menschen campierten. Macron ist gekommen, weil sich die Lage alles andere als beruhigt hat. Die Verzweifelten sind wieder in der Stadt. Es sind nicht Tausende wie früher, nur 600 oder 700.
Der frustrierte Helfer: „Ändern wird sich hier nichts“
François Guennoc arbeitet seit Jahren in der Unterstützerszene. Seine Organisation, L’Auberge de Migrants, ist dem Gespräch ferngeblieben, das der Präsident mit Vertretern der Freiwilligen führt. Guennoc sieht darin ein Alibi, mit dem die Regierung zeigen will, dass sie dialogbereit ist. „Doch ändern wird sich hier nichts, und zwar auf Jahre nicht.“
Was ist es, das Guennoc so resignieren lässt? „Wir hatten drei Tote hier in den letzten vier Wochen: Personen, die nachts auf der Autobahn ums Leben kamen, beim Versuch, in einen Lkw zu gelangen.“ Dazu kommt die Gewalt, mit der die Polizei gegen die Migranten vorgeht.
Macrons Versprechen: Die Hafenstadt Calais war während Jahren ein Symbol für eine gescheiterte Flüchtlingspolitik, heute soll sie beispielhaft werden für eine effizientere, aber auch humanere Behandlung der Asylbewerber. Das versprach der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am Dienstag bei seinem Besuch am Ärmelkanal seinen Landsleuten und den dortigen Migranten.
Macrons Verhalten: Leutselig ließ sich Macron in einem der neuen Aufnahmezentren von Asylbewerbern für Selfies fotografieren. Bei seiner Ansprache vor Polizisten und Gendarmen aber versicherte er, er werde es „keinesfalls“ zulassen, das erneut ein Dschungel mit Tausenden Migranten entsteht. Von den Beamten erwartet Macron entschlossenes Durchgreifen, zugleich aber erinnert er sie an die Pflicht, die Menschenwürde zu respektieren.
Macrons Gesetz: Der Anlass seines Abstechers ist die geplante Vorlage für ein neues Immigrations- und Asylgesetz. Details sind noch nicht bekannt, doch soll die Abschiebehaft verlängert werden. Zudem ist geplant, dass die Polizei Asylzentren schärfer überwachen darf. (taz)
Erst im Herbst letzten Jahres ist eine Studie des „Refugee Rights Data Project“ erschienen, in der knapp 92 Prozent der Migranten angaben, sie hätten schon Erfahrungen mit Polizeigewalt machen müssen. Auch werde, so sagten sie, alles, was nach einer Niederlassung aussehe, zerstört. Wobei, so vernimmt man wiederum von Freiwilligen, sich die Polizei vor dem Macron- Besuch auffallend zurückgehalten habe, um den Journalisten keine entsprechenden Bilder zu liefern.
Es gibt noch eine andere Geschichte, die man sich hier erzählt, und wer häufiger in Calais war, hört sie nicht zum ersten Mal. Schon vor Jahren hieß es, wenn die Lage in Calais besonders heikel würde, dann gelangten mit einem Mal plötzlich mehr Migranten als üblich nach Großbritannien. Auch vor Macrons Visite am Kanal soll das der Fall gewesen sein. Jedenfalls, sagt L’Auberge-Mitglied Sylvain De Saturne, hätten es in letzter Zeit einige Personen hinübergeschafft nach Großbritannien. Offiziell bestätigen würde diesen Zusammenhang natürlich niemand.
Andererseits: In 20 Jahren Transitmigration gab es in Calais nie etwas, das über die Verwaltung des Elends hinausreichte. So wie diesen Zaun mit seinen zwei Rollen Stacheldraht, einem Durchgang zur Straße und zwei Einheiten Spezialpolizisten, am Eingang zum Industriegebiet Marcel Doret. Von hier aus sind es nur ein paar Minuten mit dem Auto bis zu einem anderes Industriegebiet, Des Dunes genannt, das einst den „Jungle“ beherbergte.
Die Migranten leben versteckt in einem Wäldchen
Keinen Kilometer davon entfernt, in einem dichten Wäldchen, liegt nun der Ort, an dem sich die meisten Migranten verstecken. Und nur wenige hundert Meter weiter befand sich einst das Vorvorgängerlager des „Jungle“, 2009 geräumt. Voilà: Elendsverwaltung, die sich im Kreise dreht.
Zweimal täglich belebt sich die Szenerie vor dem Wäldchen. Dann kommen Helfer mit Lieferwagen herüber, aus denen sie Essen austeilen und manchmal auch Schlafsäcke. An diesem Mittag hat sich eine lange Schlange gebildet, Männer und Jugendliche aus Pakistan, Afghanistan und Iran, aus Eritrea, Sudan oder Äthiopien. Es gibt Nudelsuppe, Brot und Orangen, und wie immer wird zur Unterhaltung auf der asphaltierten Fläche ein ziemlich platter Ball herumgekickt. Plötzlich ertönen von der Straße her Rufe. Eine Gruppe von Migranten kommt um die Ecke gerannt. Daneben ragt ein hoher roter Lastwagen über die Lagerhallen hinaus.
Der Fahrer erscheint auf dem Dach, er öffnet eine Luke, und zwei Gestalten springen herunter. Unterdessen steht das Essen unbeachtet auf den Tischen. Vor allem die Jungen haben sich Steine gegriffen, die sie nun in Richtung der Polizisten werfen, die um dieselbe Ecke kommen. Die Spezialpolizei schießt Tränengaspatronen ab, es raucht auf dem Platz, wo eben noch die Suppe verteilt wurde. Die Helfer setzen sich in ihre Autos und machen sich davon. Fünf Polizeibusse versperren den Durchgang zur Straße, einen kleineren Weg auf der anderen Seite riegelt eine Spezialeinheit ab. Eine halbe Stunde halten sie die Migranten vor ihrem Wäldchen in Schach, dann ziehen sie sich zurück.
Ein Iraner berichtet über Polizeigewalt
Wenig später kehren die Helfer zurück. Nun wird deutlicher, was bei dem roten Lkw eigentlich passiert ist. Ein junger Iraner erzählt, der Fahrer habe Migranten entdeckt, die sich dort versteckt hätten. Er habe die Polizei gerufen, die sofort zur Stelle gewesen sei, doch alle Entdeckten seien rechtzeitig entkommen, bis auf einen, den sie zuerst geschlagen und dann festgenommen hätten. Was danach kam, der Polizeieinsatz am Rande des Wäldchens, ist ein Gradmesser für die Anspannung, die derzeit in Calais überwiegt.
Ein Migrant aus dem Iran
Warum ist es so weit gekommen? Der Mann aus dem Iran, der seinen Namen nicht nennen will, hat dazu einiges zu sagen. Seit vier Wochen sei er hier, sagt er, und zahllose Male wurde er seither von der Polizei geweckt. „Sie kommen in den Wald. Es gibt keine feste Zeit, manchmal um zwei Uhr nachts, manchmal morgens um fünf. Wenn wir ein Zelt haben, öffnen sie es und sprühen Tränengas auf uns. Egal wer darin liegt, auch wenn es Minderjährige sind. Dann zerstören sie die Zelte und nehmen uns die Schlafsäcke weg. Manchmal verbrennen sie auch Schlafsäcke oder sie werfen sie in ein großes Fahrzeug, mit dem sie alles wegkarren.“
In der letzten Nacht lag die Temperatur wieder einmal um den Gefrierpunkt. Einen Schlafsack oder ein Zelt hätten sie nicht, sagt der Mann aus dem Iran, nur ihre Jacken.
Einige umstehende Afghanen nicken. „Die einzige Möglichkeit ist, sich an die Kälte zu gewöhnen“, sagt einer von ihnen. „Wenn wir dann aus dem Wald auf die Straße gehen, um Lastwagen zu suchen, sprühen die Polizisten Tränengas auf uns oder sie schlagen uns. Fast jeden Tag schlagen sie uns!“ Ein junger Mann um die 18 zieht zum Beweis seine Mütze ab. Zwischen den kurzen schwarzen Haaren ist deutlich eine dunkle Kruste sichtbar. „Vor zwei Tagen wollte ich auf einen Lkw. Sie schlugen mir mit dem Stock auf den Kopf.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren