Fotobuch von Deanna Templeton: Todessehnsucht, liebevoll gepflegt
Deanna Templetons Fotobuch „What She Said“ ist vor allem eine psychologische Studie. Es zeigt die Schwierigkeit, als Mädchen erwachsen zu werden.
Die Hilferufe haben nicht immer ein Ausrufezeichen, manche dafür mehrere. „Ich wünschte, ich hätte die Eier, mich umzubringen. Ich wünschte, ich wäre tot.“ „Ich fühle mich so hässlich!“ „Ich will anorektisch sein!!“ „Ich hasse das Leben, ich hasse mich, ich hasse dich!!“
Was man aber nicht denken würde, wenn man in „What She Said“ zu lesen beginnt: Deanna Templeton ist noch am Leben. Aus dem Teenager, der in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nachgerade liebevoll seine Todessehnsucht pflegte, ist eine erfolgreiche Fotografin geworden. „What She Said“ ist ihr zehntes Fotobuch, sie hatte Einzelausstellungen in Los Angeles und Düsseldorf, Australien und den Niederlanden.
Doch was daherkommt wie ein Fotobuch, ist eigentlich eine psychologische Studie. Die Aufarbeitung einer Jugend, die vielleicht extrem, aber auch exemplarisch ist. Die 1969 geborene und in Kalifornien aufgewachsene Templeton hat jahrzehntelang auf der Straße Mädchen und junge Frauen angesprochen, um sie zu fotografieren. Erst als sie sich vor Kurzem, so beschreibt sie es im Text zum Buch, durch ihre alten Tagebuchaufzeichnungen und die Schachteln mit Erinnerungsstücken wühlte, wurde ihr klar, warum: „Diese Frauen waren entweder, wie ich damals war. Oder sie waren, was ich sein wollte: schön, stark, unabhängig, knallhart.“
Diese Porträtaufnahmen kombiniert sie für „What She Said“, das nach dem gleichnamigen Song von The Smiths benannt ist, mit Tagebuchauszügen, Faksimiles von Seiten aus ihrem Tagebuch und von Flyern der vielen Punk-, Post-Punk- und Hardcore-Konzerte, die sie damals besuchte, von Motörhead, Red Hot Chili Peppers oder den Ramones, aber auch längst vergessener Bands wie Lords of the New Church, Severed Heads oder Love and Rockets.
Fast wie Schnappschüsse
Deanna Templeton: „What She Said“, Mack Books, London 2021, 184 Seiten, 45 Euro
Die Porträts, meist schwarzweiß, seltener in Farbe, könnten kaum unterschiedlicher sein, aber alle haben einen beiläufigen Charakter, wirken fast wie Schnappschüsse, sind eben ganz klassische Straßenfotografie. Zu sehen sind rote Haare, schwarze Haare, schwarz-blaue Haare, Platinblond, rausgewachsenes Blond, gern auch zwei Farben auf einem Kopf. Eine junge Frau trägt eine Sicherheitsnadel in der Nase, sie ist offen und sieht aus wie gerade mal eben eingestochen.
Ein Mädchen, schwarz-weiß fotografiert, dunkles, wirres Haar, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet, mit dem Filzstift hat sie „Single“ in ihren Ausschnitt geschrieben, ein Pfeil zeigt nach unten. Auf der nächsten Seite in Farbe eine frisch gewählte „Beach Princess“, die Schärpe umgehängt, die kleine Krone im gelockten Haar, schaut sie selbstsicher in die Kamera. Die selbstbewusste Gothic-Queen, die Skater-Girls mit ihren Brettern unterm Arm, der unsicher lächelnde Heavy-Metal-Fan, das genderfluide Pärchen. Ein Mädchen zeigt nicht ihr Gesicht, sondern die selbst beigefügten Narben auf ihren Unterarmen. Ein anderes reckt ihr Handgelenk in die Kamera, so dass man erkennen kann, dass sie aus bunten Perlen die Wörter b-i-t-c-h und f-u-c-k gebastelt hat.
Ein Mädchen präsentiert sich und ihr schwarzes Spitzenoutfit, hebt sogar den Rocksaum, auf einem anderen Bild ziehen zwei Mädchen ihre Unterlippen nach unten wie zwei Kinder, die Grimassen schneiden. Auf einem Bauch steht „Feed me“. Viele tragen Namen und oder Bild ihrer liebsten Band auf dem T-Shirt, manche ironisch gemeinte, aber vielsagende Selbstbezichtigungen wie „Teen Cunt“. Sie alle repräsentieren verschiedene Subkulturen, deren Stilistiken sich über die Jahrzehnte verändern, aber immer zeigen die Bilder Außenseiter, junge Frauen auf der Suche nach sich, keine jungen Erwachsenen, die fertig sind mit sich und der Welt.
Vor allem aber zeigen sie: Das Drama des Erwachsenwerdens verläuft immer anders, aber es ist nie einfach. Deanna Templeton hat im Alter von nur 15 Jahren bereits ihren letzten Willen verfasst. Im ersten Satz vermacht sie ihre Plattensammlung an ihren großen Bruder. Im P.S. wünscht sie sich „eine große Beerdigung mit allen meinen Freunden und so“, aber auch: „Alle sollen wissen, dass es Selbstmord war, sonst wäre mein Tod umsonst gewesen.“
Dann aber, zwischen all dem melodramatischen Selbsthass, dem verzweifelten Angeödetsein und der juvenilen Todessehnsucht entsteht in den Tagebuchzeilen plötzlich eine Liebesgeschichte, ganz zart und angemessen kompliziert, ein bisschen dramatisch und doch mit Happy-End: Denn Deanna und Ed sind bis heute ein Paar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Bestürzung und erste Details über den Tatverdächtigen
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher