Forschung über den Holocaust: Doktor Mengele mit iPad
Eine Hochstaplerin versuchte Historiker Bogdan Musial mit gefälschten Dokumenten aus Auschwitz zu täuschen. „Mengeles Koffer“ erzählt nun davon.
Der Todesengel von Auschwitz, wie er von Überlebenden genannt wird, weil er freundlich lächelnd, oft nur mit leichtem Fingerzeig, Opfer an die Todesrampe winkte, wie andere ein Taxi bestellen, blickt auf sein Apple-Gerät; während der nicht unattraktive Arzt nach seinem neuesten Artikel über Rassenhygiene googelt, bittet er höflich den von ihm schon vor 1933 geschätzten jüdischen Frauenarzt, Professor Weißkopf, die nächsten Todesspritzen zu präparieren … STOP!
So weit könnte es kommen, wenn das neueste Buch des polnischen Historikers Bogdan Musial, „Mengeles Koffer“, demnächst als internationaler Bestseller Hollywood-Regisseur und Autor Tarantino in die Hände fiele. Deshalb lesen Sie die unglaubliche Geschichte über die Tochter eines kleinen Finanzbeamten, die den Historiker Musial mit gefälschten Dokumenten zu manipulieren suchte, lieber jetzt ohne die monströsen Zutaten, die das Popcorn-Kino braucht.
Man muss sich das einmal vorstellen: Historiker sind ja oft eher damit beschäftigt, andere Historiker mit ihren neuesten Erkenntnissen zu widerlegen und zu übertrumpfen. Hier aber feiert eine Provinznudel namens Magdolna Kaiser, auf Gräfin getrimmt, mit dem alten ungarischen Geschlecht der Batthyánys ihre Triumphe. Sie behauptet, die Ärztin des Papstes zu sein. Und als Musial beim Vatikan nachfragt, bekommt er dort zur Antwort, dass man prinzipiell keine Auskünfte erteile. Das klingt glaubhaft.
Etwaige Zweifel räumt die zur Frau Professor Gräfin Batthyány Aufgestiegene souverän aus. Ohne eine gewisse Anonymität könne man für den Vatikan nicht tätig sein. Sie als Person müsse da im Hintergrund bleiben. Und so sammelt sie für Krankenhäuser oder Brunnen, die nie gebaut werden, lässt auf Gesellschaften der Reichen schon einmal ein Gurkenglas herumreichen, damit sichtbar wird, wie viele Scheine den Spendern die traurigen Augen kranker Kinder in Afrika wert sind.
Auf Du und Du
Eine Zuckerguss-Dramaturgie und dennoch nicht erfunden: Provinzente wird zum Schwan, schwimmt aus Kleinstadt-Teich in Richtung Villa am Meer. Die Party steigt ihr zu Ehren, finanziert von einer katholischen Münchner Millionärin, die alles für die vermeintliche Privatärztin des Papstes tut. Die durch Frau Professor Kaiser-Batthyány empfundene Nähe zum Heiligen Vater treibt die Spendenfreudigkeit in die Hunderttausende und direkt in Frau Kaisers Täschchen.
Und was heißt hier Heiliger Vater. Unter mindestens zwei Heiligen Vätern geht die „Gräfin“ lang noch nicht nach Haus. Mit Benedikt und Franziskus scheint sie auf Du und Du wie einst Karl May mit Old Shatterhand und Winnetou.
Die Hochstaplerin, um die es bei Musial geht, produziert allerdings keine Romane, sondern vor allem sich selbst nebst gefälschten Dokumenten. Und da muss es schon Auschwitz sein. Doch mit dem von Musial mit ins Boot geholten Historikerkollegen Keremy aus Ungarn kommt das Spurensucher–Team allmählich voran. Frau Gräfin behagt nicht, dass Keremy aus dem Ungarischen des Tagebuchschreibers, ihres angeblichen jüdischen Großvaters, alles ins Deutsche übersetzen wird.
Der Fall: Als falsche Gräfin mit angeblich besten päpstlichen Kontakten verschaffte sich Magdolna Kaiser Zutritt zur besseren Münchner Gesellschaft. Sie erschwindelte sich eine Menge Geld. Und schuf sich schließlich die Legende, ihr ungarischer Großvater sei jüdischer KZ-Arzt und Auschwitz-Überlebender gewesen. Den Historiker Bogdan Musial versuchte sie mit gefälschten Dokumenten zu manipulieren – und flog auf.
Das Buch: Bogdan Musial, „Mengeles Koffer. Eine Spurensuche“. Osburg Verlag 2019. 240 Seiten, 24 Euro
Sie wolle das selbst übernehmen. Zum Schein geht Musial darauf ein, aber Keremy arbeitet weiter und wird fündig. Als ein Kameramann der ARD die rührende Geschichte der Gräfin, sie sei mit dem polnischen Papst in Krakau Straßenbahn gefahren, als Blödsinn entlarvt – die Straßenbahnfahrt hatte zwar stattgefunden, aber ohne Magdolna Kaiser –, ist man schon ganz nah an ihrer Enttarnung.
Neigung zu Selbstinszenierungen
Es wimmelt nur so von Plagiaten und nicht ausgewiesenen Zitaten in den angeblichen Briefen des Großvaters. Magdolna Kaiser neigt zu perversen Selbstinszenierungen. Auf der Klaviatur der Betroffenheits-Fugen serviert sie keine falschen Töne. Begnadete Lügner und -rinnen lügen von innen; leben ihre Lüge bis zur seelischen Verausgabung. Wer sein wahres Ich verleugnet, lebt aber kein leichtes Leben. Hochstapelei kostet die Geschädigten oft viel Geld, aber den hoch Stapelnden auch sehr viel Mühe.
Die Lüge zur Wahrheit zu machen ist die Hauptaufgabe solcher Menschen. Hier so geschehen auf dem Gelände von Auschwitz. Vor den Ruinen der Krematorien 1 und 2 trägt die angebliche Enkeltochter eines (erfundenen) jüdischen Arztes ein angeblich von Papst Benedikt an sie persönlich gerichtetes Grußwort vor. Der angebliche Großvater, Professor Grósz Chorin, soll im KZ, gezwungenermaßen, Dr. Mengele assistiert haben. Das gab es und betraf viele jüdische Mediziner tatsächlich.
200 Doktorarbeiten von NS-Ärzten auf dem Gebiet der „Rassenforschung und Hygiene“ wurden bis 1945 angenommen. Dr. Mengeles Arbeit soll noch in der jungen Bundesrepublik Medizinern zugänglich gewesen sein. Das lässt erahnen, was an Erkenntnissen auf der Basis benutzten „Menschenmaterials“, ein Begriff jener Ideologie, als „Know-how“ in die Nachkriegs-Pharmazie geflossen sein mag. Deshalb muss man von der Generation Mengele sprechen. Grausam war nicht er allein, der Massenmörder und Lagerarzt von Auschwitz.
Musial schafft es nun ausgerechnet mit einem Buch über die Lüge und Unwahrheiten einer Hochstaplerin, ein noch wenig bearbeitetes Kapitel über erzwungene Schuld jüdischer KZ-Ärzte aufs Tapet zu bringen: also einer von den Nazis erzwungenen Mitschuld der Lagerhäftlinge bei Operationen und Experimenten. Die dafür verantwortlichen SS-Ärzte nannten die Opfer, darunter sehr viele Kinder, in ihren Protokollen an die wissenschaftlichen Institute zwecks Auswertung dann nur „Patienten“ oder „Probanden“. „Meine Meerschweinchen“, so nannte Mengele sie intern.
Sie mussten assistieren
Von denen, die als jüdische Mediziner Mengele assistieren mussten, nennt Historiker Musial den Pädiater Professor Epstein sowie Doktor Rudolf Weißkopf. Vor 1933 waren sie Koryphäen auf ihrem Gebiet. Sie überlebten das KZ und, so Musial, „schwiegen nach der Befreiung des Lagers weitgehend über ihre Tätigkeit im Bereich der Zwillingsforschung“: Musial öffnet ohne Überheblichkeit ein bis heute selten so intensiv behandeltes Kapitel jener Tragik jüdischer Lagerärzte.
Jan Philipp Reemtsma fragt in seinem brillantem Nachwort über Blender und Verblendete in dem Buch: „Wozu brauchte Frau Kaiser Gräfin Batthyány zu allem, was sie den Leuten vorspiegelte, auch noch einen Großvater, der Häftlingsarzt in Auschwitz war?“
Sie gierte nach Historikern, die ihr, der „Gräfin“, ihr falsches Leben bestätigen sollten. Also „Authentizität“ für die erfundene Familienchronik. Frau Kaiser fand Gefallen daran, von einem polnischen TV-Team vor den Öfen und Gaskammern in ihrer „Betroffenheit“ gefilmt zu werden, während sie den Papst zitiert, der sie angeblich grüßt!
„Seriosität ist die Münze jedes Hochstaplers,“ heißt es in Musials Buch. Und Adornos berühmter Satz, dass es im Falschen nichts Richtiges gäbe, gilt für den begabten Fälscher im umgekehrten Sinne: Das Falsche findet er nur im Richtigen: Das Königreich Bhutan mit seinen 750.000 Einwohnern im Himalaja zwischen Indien und China existiert! Und eine der verschiedenen Kooperationen der königlichen Universität betrifft jene mit der renommierten Szent-István-Universität in Ungarn, die Frau Professor Gräfin Kaiser-Battyány angebahnt hatte. Ihre Titel sind falsch, die übrigen Repräsentanten aber echt.
Ein gläubiges Netzwerk
Selbst die bayerische Staatskanzlei und der bayerische Ministerpräsident ließen sich davon überzeugen, dem päpstlichen Privatsekretär Georg Gänswein den Bayerischen Verdienstorden zu verleihen. Dank des Netzwerks der Betrügerin gelingt Erstaunliches. Der Geehrte zeigt sich selbst überrascht ob der unverdienten Ehre, weil er für Bayern doch gar nichts getan hatte.
Doch wie so oft scheitert der große Bluff am Detail! Bei Frau Kaiser war es eine siebenstellige Telefonnummer in Krakau, in den von ihr verfassten Tagebüchern „ihres“ Großvaters aus den 1960er Jahren, die Musial stutzig machte. Denn siebenstellige Telefonnummern gab es zu dieser Zeit in Polen noch nicht. Frau Kaiser hatte als Anschluss ihres Großvaters in Krakau die Telefonnummer einem polnischen Schmöker entnommen. Er trug den Titel: „JOSEPH MENGELES TELEFONNUMMER: 0048338448015“.
Nun wissen Sie auch, wie ich auf den Titel für diesen Artikel kam. Wenn die Constantin Film davon hört, dass die falsche Papstärztin in Wirklichkeit „die uneheliche und damit heimliche Tochter des 2007 verstorbenen römisch-katholischen Pariser Erzbischofs Jean-Marie Kardinal Lustiger“ ist, wie Frau Kaiser das kurz vor ihrer Verhaftung „auf verwickelten Wegen“ lanciert hat – wie Musial am Ende seiner famosen Spurensuche über Frau Kaiser berichtet –, würde ich gern die „Lustiger“ spielen.
Aber eher dreht Tarantino den Mengele mit einem Apple unterm Arm.
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