piwik no script img

Forschung über GeschwisterloseSind Einzelkinder narzisstisch?

Einzelkinder seien egozentrisch, weniger einfühlsam und könnten schlechter teilen. Doch stimmt das? Deutsche Unis haben es erforscht.

Es gibt genügend Gründe nur ein Kind zu haben Foto: Ute Grabowsky/photothek/imago

Anna Hofer will Eltern von Einzelkindern Mut machen. Sie hat einen Elternratgeber geschrieben und will ein Feld aufmischen, in dem viel Literatur aus den 1990er Jahren stammt und wissenschaftlich überholt ist. „Aus meiner Arbeit als Elternberaterin weiß ich, dass sich Mütter und manchmal auch Väter oft große Sorgen machen, ihren Kindern ohne Geschwister wichtige Lebenserfahrungen vorzuenthalten“, sagt Hofer, die selbst Einzelkind und Einzelkindmutter ist.

Schuld daran sei ein gesellschaftliches Zerrbild von weniger sozialen, egozentrischen Geschwisterlosen. Wie tief solche Vorurteile sitzen, zeigt sich, wenn selbst pädagogische Fachkräfte in Kita oder Schule teilweise darüber sprechen, dass das eigene Kind angeblich nicht gut teilen kann, weil es keine Geschwister hat. Oder wenn Personalverantwortliche in Bewerbungsgesprächen explizit nach Geschwistern fragen, um mehr über die vermeintliche Teamfähigkeit der Be­wer­be­r:in­nen zu erfahren.

Solche Vorurteile wirkten sich auf die Familienplanung vieler Paare aus und erzeugten großen Druck, sagt Hofer. Dabei sollte die Entscheidung für ein oder mehrere Kinder nicht von der Angst vor möglichen negativen Folgen eines Einzelkind-Daseins bestimmt sein, sondern von der jeweiligen Lebenssituation und den eigenen Vorstellungen. Schließlich gibt es genügend Gründe, nur ein Kind zu haben. Manche Eltern sind mit einem Kind einfach sehr glücklich und können sich ein zweites nicht vorstellen. Auch finanzielle Aspekte können eine Rolle spielen. Manchmal will sich keine zweite Schwangerschaft einstellen oder Paare trennen sich nach einem Kind.

Interessanterweise stammt das Zerrbild vom asozialen Einzelkind aus einer Zeit, in der eine bewusste Entscheidung für ein Familienmodell kaum möglich war. Über viele Jahrhunderte waren kinderreiche Familien die Norm. Der Nachwuchs war je nach sozialem Status wichtig als Arbeitskraft oder als Nachfolger in Rang und Ehre. Einzelkinder hingegen deuteten auf einen schlechten Gesundheitszustand der Eltern oder auf familiäre Probleme hin. Die bewusste Entscheidung gegen oder für ein Kind ist dagegen ein relativ neues Phänomen. Denn zuverlässige Verhütungsmittel wie die Pille gab es erst seit den 1960er Jahren.

Von der Ausnahme zum Trend

Einzelkinder waren also lange Zeit die Ausnahme, die Gesellschaft konnte ihnen recht einfach pathologische Eigenschaften zuschreiben. Der Kinderpsychologe Granville Stanley Hall sah noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Einzelkindsein sogar eine Krankheit und erklärte, Eltern mit vielen Kindern gelänge es besser, sie groß zu ziehen.

Von solchen Haltungen hat sich das moderne Familienbild entfernt, in Deutschland und Österreich lebt in etwa der Hälfte aller Familien nur ein Kind. „Familienplanung ist immer eine Momentaufnahme. Der Einzelkindstatus kann sich schnell ändern“, sagt Christine Geserick, Soziologin am Österreichischen Institut für Familienforschung. „Es kommen kleine Geschwister dazu oder die Familienkonstellation ändert sich durch Patchworkbeziehungen und Bonusgeschwister.“ Langfristig zeigen die Zahlen aber einen leichten Trend zu mehr Ein-Kind-Familien – vor allem Eltern mit hoher Bildung entscheiden sich oft bewusst für dieses Modell.

Interessant ist, dass Eltern, die selbst ohne Geschwister aufgewachsen sind, auch häufiger nur ein Kind bekommen. „Die Zwei-Kind-Familie bleibt aber auch in dieser Gruppe die Norm“, sagt die Soziologin. Das Bild der Geschwister als soziale Lebensschule, die die Reifung vorantreibt, ist auch bei ihnen verankert. „Ich halte diese Perspektive für verkürzt. Sie verkennt, dass die meisten Kinder schon früh soziale Kontakte außerhalb der Familie haben“, sagt Geserick. Sozialverhalten lerne man eben auch in der Kita, Schule, dem Spielen in der Nachbarschaft oder dem Sportverein.

Einzelkinder früher in der Kita

Die Bedeutung dieser sozialen Kontakte außerhalb der Familie ist den meisten Eltern bewusst – übrigens egal wie viele Geschwister es gibt. Sie kümmern sich aktiv um Verabredungen, melden ihre Kinder im Sportverein oder beim Musikkurs an. Auch die Kita und später die Grundschule spielen dabei eine große Rolle. Einzelkinder kommen im Schnitt ein halbes Jahr früher in die Kita. Entwarnung auf breiter Front kommt auch aus der Wissenschaft.

Bereits Ende der 80er Jahre veröffentlichte die US-amerikanische Psychologin Toni Falbo eine große Metaanalyse von mehr als 200 Studien über Einzel- und Geschwisterkinder. Sie fand keine signifikanten Unterschiede in den Charaktereigenschaften. Ihre Kollegin Judith Blake bestätigte diese Untersuchung 1989 und sah Einzelkinder sogar als besonders sozial an, da sie motivierter seien, Freundschaften außerhalb der Familie zu schließen.

Die Forschung zeigt, dass das Bild vom,typischen Einzelkind' nicht stimmt. Aber die Schublade ist tief

Anna Hofer, Elternberaterin

Auch das langfristige Wohlbefinden von Einzelkindern wurde untersucht. Eine US-Studie, in der 3221 Pro­ban­d:in­nen in verschiedenen Lebensphasen befragt wurden, ergab, dass Einzelkinder mindestens genauso glücklich und zufrieden mit ihrem Leben waren wie Kinder mit Geschwistern. Selbst einsamer fühlen sich Einzelkinder nicht, wie eine Studie der University of Texas zeigt – und das, obwohl sie mehr Zeit mit sich selbst verbringen.

Eines der größten Vorurteile, nämlich die starke Ich-Bezogenheit, untersuchte 2019 eine deutsche Studie der Universitäten Leipzig und Münster. Die Forscherinnen und Forscher befragten zunächst Menschen zu ihrer Meinung über Einzelkinder. Die 556 Pro­ban­d:in­nen sollten Einzelkindern und Kindern mit Geschwistern narzisstische Attribute wie Selbstüberschätzung oder Selbstaufwertung zuschreiben. Dabei zeigte sich deutlich, dass Einzelkindern häufiger mit einer Tendenz zum Narzissmus verbunden wurden.

Sind Einzelkinder narzisstischer?

In der zweiten Befragung wurde dieses Vorurteil überprüft. Dazu nutzten die For­sche­r:in­nen einen etablierten Narzissmus-Fragebogen und die Daten von insgesamt 1.810 Teilnehmenden einer repräsentativen Studie. Das Ergebnis: Einzelkinder zeigten auf den wichtigen Narzissmus-Faktoren keine höheren Werte als Geschwisterkinder. Dies änderte sich auch nicht, als die Forschenden andere wichtige Variablen wie Alter, Geschlecht und sozioökonomischen Status der Eltern herausrechneten.

„Die Forschung zeigt, dass das Bild vom ‚typischen Einzelkind‘ nicht stimmt. Aber die Schublade ist tief. Daran müssen wir weiterarbeiten“, sagt Hofer. Die Elternberaterin sieht aber auch positive Entwicklungen. Mit der wachsenden Zahl von Ein-Kind-Familien in vielen Ländern bröckeln auch die Vorurteile. Je mehr Menschen selbst Einzelkinder sind oder Einzelkinder großziehen, desto eher entwickelt sich in der Gesellschaft ein differenzierteres und realistischeres Bild.

Auch das Bild der Einzelkinder in den Medien wandelt sich langsam. In Filmen oder Kinderbüchern tauchen sie ohne große Vorurteile auf. Und in den sozialen Netzwerken gibt es eine starke Community von Ein-Kind-Eltern, die sich über Ängste und Vorurteile austauschen und sich gegenseitig Mut machen. Anna Hofer hält diese Entwicklung für wichtig. Sie sei grundlegend, damit Eltern eine gute Entscheidung über ihre Familiengröße treffen können. Ohne sich von unbegründeten Ängsten oder gesellschaftlichen Erwartungen leiten zu lassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Man kann auch mit Geschwistern egozentrisch und narzistisch werden.

  • Einzelkindern entgeht eine tolle Erfahrung, ein Spaß, den Millionen mit Begeisterung ausüben:



    Sie können sich mit niemandem ums Erbe fetzen.

    • @Erfahrungssammler:

      Dafür sind doch noch Stiefmütter/väter, Onkel, Taten und Neffen da. :D

  • Ich finde die Vorstellung, Freunde könnte Geschwister auch nur irgendwie ansatzweise ausgleichen, doch sehr merkwürdig. Freunde sucht man sich aus, Geschwister gerade nicht.

    Ich habe in der Familie oder im Bekanntenkreis auch niemanden, der sich bewusst für nur ein Kind entschieden hätte.

  • Diese Vorwürfe an "Einzelkinder" sind doch nur eine Projektion der "Kernfamilie", die eh schon gesellschaftlich vereinzelt und hilflos ist.

    Damit reicht man die Scheiße einfach weiter an den nächsten und ist sie gefühlt erstmal los.

    Als ob es letztlich einen Unterschied machen würde, ob man selbst Geschwister hat oder nicht, wenn die Restfamilie (die ja irgendwann eh stirbt) etwas kleiner ist. Allein ist man irgendwann so oder so und genau das ist letztlich das Problem.

    Das Problem ist die Vereinzelung und ob man dann noch eine Schwester oder einen Bruder hat oder nicht, ändert daran nur sehr wenig. Man könnte genauso behaupten, dass die, die noch nicht einmal Geschwister haben, das Problem früher erkennen und damit auch die Notwendigkeit, sich irgendwelche Gefährten zu suchen, ob verwandt oder nicht. Denn das müssen wir alle tun.

  • Aufschlussreicher fundierter Artikel. Danke dafür!