Forscherin zu Gender und Kolonialismus: „Es wird aber niemals reichen“

Patricia Purtschert ist Schweizerin, Forscherin – und Bergsteigerin. Sie spricht über Rassismus, feministische Nervensägen und Verneinung.

Eine Nahaufnahme von Patricia Purtschert

Patricia Purtschert ärgert sich oft. Lachen mag sie aber auch – nur nicht auf Kosten von Minderheiten Foto: Anne Morgenstern

Ein Café am Limmatquai in der Zürcher Altstadt: italienische Kaffeehauskultur in modernem Design. Die Kellner tragen Schwarz, Patricia Purtschert eine klassische Hemdkragen-V-Pullover-Hosen-Kombination. Sie ist freundlich und präzise, wägt ihre Antworten mit Bedacht.

taz.am wochenende: Frau Purtschert, warum sind Sie Genderforscherin geworden? Was treibt Sie an?

Patricia Purtschert: Die Frage nach Gerechtigkeit. Und die hat immer mit Macht zu tun: Wie werden über Geschlechterrollen und -bilder Hierarchien hergestellt, die sich auf das Leben sehr unterschiedlicher Menschen auswirken?

Sie wollen also verstehen, warum die Welt ungerecht ist.

Ja, um dann einen Hebel zu finden, um die Verhältnisse zu ändern. Für mich war dieser Hebel der Feminismus. Wobei ich schnell gemerkt habe, dass ich mich auch mit anderen Perspektiven auf Ungleichheit auseinandersetzen will und muss. Etwa mit dem Rassismus als zentralem Element der modernen Gesellschaftsordnung.

Also zunächst die Erkenntnis, in einem Patriarchat zu leben. Und dann die, in einer von Kolonialismus geprägten Welt zu leben.

Ja, für mich war das so. Das Buch, das in mir den Wunsch nach dem Verstehen struktureller Ungerechtigkeit ausgelöst hat, war übrigens Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“.

Ein Klassiker!

Lehre: Professorin und Co-Leiterin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung an der Uni Bern.

Bücher: Grenzfiguren. Kultur, Geschlecht und Subjekt bei Hegel und Nietzsche. Campus, 2006; Früh los. Im Gespräch mit Bergsteigerinnen über siebzig. hier+jetzt, 2010; Postkoloniale Schweiz. transcript 2012

Ich war jung und lebte eine Zeit lang in Berlin – auch ein Klassiker, vermutlich. Da bin ich auf das Buch gestoßen. Es ist ein sehr schönes Buch für den Einstieg. Die Analyse Beauvoirs ist geprägt von ihrer Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, von Rassismus und Antisemitismus. In ihrem Buch steht dieser Strang parallel zur feministischen Analyse, aber beim Lesen merkt man, dass in eine gesellschaftliche Analyse beides mit einfließen muss, dass beides untrennbar miteinander verbunden ist. Bis heute sind das die Gebiete, die mich am stärksten interessieren – zusammen mit den Queer Studies, also der Frage nach Sexualität, die ja eng verschränkt ist mit derjenigen nach Geschlecht.

Queer- und Postkolonialismus-Studien geraten immer wieder unter Hysterie-Verdacht. In deutschen Medien kursieren Geschichten über eine ausufernde Überempfindsamkeit an amerikanischen Uni-Campi. Sie haben bei Judith Butler in Berkeley studiert – haben Sie das auch so wahrgenommen?

Nein. Was mir in Berkeley aber auffiel, war, dass dort die verschiedenen Diskriminierungsfragen viel stärker zusammen verhandelt wurden. In diesem Kontext fiel mir erst auf, wie wenig wir in der Schweiz darüber sprechen, welche Folgen der Kolonialismus für unsere Gesellschaft hatte.

Die Schweiz hatte ja auch keine Kolonien.

Das ist eine beliebte Behauptung. In Deutschland sagte man: Wir hatten wenige Kolonien, und nur für kurze Zeit. In Frankreich heißt es: Wir waren eine gute Kolonialmacht. Das sind alles Varianten kolonialer Amnesie. Eine bessere Antwort für die Schweiz wäre: Das Land war zweifellos und auf vielfältige Weise in den Kolonialismus eingebunden.

Aber eher als Profiteur denn als Täter …

In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wird gewählt. Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) sind die Hoffnungsträger ihrer Parteien. Wer kann liberale Wähler überzeugen? In der taz.am wochenende vom 6./7. Mai beschäftigen wir uns mit einem neuen Liberalismus. Außerdem: Männer, die ältere Partnerinnen haben. Wie liebt es sich mit dem Tabu? Und: Patricia Purtschert ist Gender- und Kolonialismusforscherin. Warum sie ihrer Tochter trotzdem Pippi Langstrumpf vorliest. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Auf wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene gab es eine enge Zusammenarbeit mit den Kolonialmächten. Mich interessiert aber besonders der kulturelle Aspekt des Kolonialismus, die Art und Weise, wie er Teil unserer Alltagskultur geworden ist. Ich habe mir Kinderbücher angeschaut: Welche Bilder von weißen und nichtweißen Menschen werden dort gezeichnet, welche Vorstellungen von Fortschritt, Zivilisation, Handlungsmacht wird Kindern dadurch vermittelt?

Soll man Bücher, die rassistische Stereotype bedienen, umschreiben?

Warum nicht? Es scheint eine koloniale Nostalgie weißer Deutscher oder SchweizerInnen zu geben, die nicht bereit sind, gemeinsam mit denen, die verletzt werden von solchen Bildern, unsere Kultur umzuarbeiten.

Aber literarische Werke im Rückgriff zu bereinigen, ist ein Eingriff in künstlerische Autonomie!

Es geht nicht darum, dass Geschichten nicht mehr erzählt werden dürfen – ich finde es aber produktiv, sich Alternativen zu überlegen. Ich habe selbst zwei Kinder im Vorlesealter und keine Lust darauf, sie aktiv in eine rassistische Welt hinein zu sozialisieren!

Astrid Lindgrens Geschichte von Pippi Langstrumpf in Taka-Tuka-Land geriet vor einiger Zeit in Kritik, unter anderem, weil dort ein „Negerkönig“ vorkommt. Pippi Langstrumpf ist allerdings auch ein Kinderklassiker. Wie handhaben Sie das zu Hause?

Ich lese Pippi gern vor, es gibt leider noch immer wenig solch starker Mädchenfiguren – allerdings habe ich den Teil mit „Taka-Tuka-Land“ weggelassen und das mit meiner Tochter auch diskutiert. Anderes habe ich spontan geändert, etwa die Witze über Leute in Ägypten oder Indien, die den ganzen Tag auf den Händen laufen oder lügen.

Wie haben Sie das gelöst?

Ich habe die Zürcher lügen lassen, die Berner auf Händen laufen… Es ist nur ein bisschen Gedankenarbeit.

Geht es dabei um Schuld?

Es geht vor allem um asymmetrische Beziehungen und die Art und Weise, wie Machtunterschiede in unserer Gesellschaft aufrechterhalten und normalisiert werden. Das sehen Sie auch bei den gängigen Geschlechterrollen: Nehmen Sie die Schlümpfe: Nur eine Schlumpffigur ist weiblich, die ist blond und schön. Und dann gibt es ungefähr fünfzig männliche Schlümpfe. Übersetzt heißt das: Als männliche Figur kann man alles sein, witzig, erfinderisch, verträumt, künstlerisch begabt, väterlich-bestimmend – ein Universum von Möglichkeiten. Während es bei der weiblichen Figur ein Modell gibt, das zudem stark von heterosexuell konnotierten Äußerlichkeiten, der Wirkung aufs männliche Geschlecht geprägt ist.

Ärgern Sie sich als queere Mutter, Feministin und Kolonialismusforscherin eigentlich dreimal so viel wie andere?

Ich ärgere mich den ganzen Tag! Dauernd! Denn bei aller Emanzipation gibt es auch gewaltige Rückwärtsbewegung. Zu meiner Kinderzeit gab es viel weniger geschlechterspezifische Spielzeuge. Heute werden Legos für Mädchen und Jungen angeboten. Bei der Kinderüberraschung gibt es nun das „Classic Ei“ und das rosarot markierte „Mädchen-Ei“ – eine allgemeine Sorte und eine extra für Mädchen. Eine Reproduktion von Stereotypen.

Ist das nicht deprimierend, immer wieder von vorn anfangen zu müssen?

Die Feministin Sarah Ahmed hat die Figur der feminist killjoy kreiert – eine feministische Spielverderberin, die auftaucht und den Finger drauflegt –, durchaus eine Figur, in der ich mich wiedererkenne. Es geht um den Wunsch, Dinge zu verändern, zu sagen: Ich willige nicht ein in diese neuen Angebote, sich unterzuordnen und mitzuspielen. Diese Normalisierung von Rassismus, Sexismus, Homophobie mitzumachen. Wenn alle lachen, ist die Killjoy diejenige, die sagt: „Dieser Witz ist nicht lustig, er ist verletzend!“

Ist das nicht eine blöde Rolle, die humorlose Nervensäge zu spielen?

Es ist nicht so, dass Killjoys nicht lachen. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen einem Lachen, das Ungleichheitsverhältnisse verstärkt, und einem, das diese in Frage stellt.

Seit dem Wahlsieg Trumps mehren sich die Stimmen, die sagen: Vielleicht sehen wir zu viele Diskriminierungen – und haben dadurch die Nöte anderer Bevölkerungsgruppen nicht gesehen.

Dem würde ich vehement widersprechen. Der Populismus kam nicht aus dem Nichts – er hat eine lange Vorgeschichte. Die SVP in der Schweiz etwa betreibt seit 20 Jahren ausländerfeindliche, rassistische Politik und hat sich damit zu einer der wichtigsten Kräfte im Land hochgearbeitet. Auch Trumps Sieg war kein absoluter Bruch. Vor ihm gewannen schon Ronald Reagan und George W. Bush mit minoritätenfeindlicher Politik Wahlen.

Diese Politik wird ziemlich erfolgreich verkauft mit dem angeblich vergessenen weißen Arbeiter.

Wer soll das sein? Es ist ein Riesenrückschritt, dass jetzt so getan wird, als stünden auf der einen Seite die Minderheiten, also Frauen – schon da wird deutlich, wie absurd der Begriff Minderheiten ist –, Schwule, Lesben, People of Colour, um die man sich gekümmert hat. Und auf der anderen Seite der Arbeiter, den man als weißen Mann zeichnet, und die ökonomische Frage, die man darüber vergessen hat. Ökonomische Ungleichheit ist aber untrennbar verflochten mit den Anliegen sogenannter Minderheiten. Das zeigt sich etwa bei der Diskussion um Transmenschen die dargestellt werden als diejenigen, die es übertreiben.

Sie meinen die Diskussion über Transgender-Toiletten, die oft als stellvertretend für angebliche Luxusdiskussionn in der Linken herhalten muss.

Da geht es aber um handfeste Gewalt! Wenn Sie als Transmensch in die eine oder andere Toilette gehen, können Sie sehr unschöne Dinge erleben. Und es geht oftmals um ökonomische Probleme: dass Menschen nach ihrer Transition etwa keine Stelle mehr finden. Die Entkoppelung von wirtschaftlichen Fragen und Geschlechterpolitik ergibt am Ende überhaupt keinen Sinn.

Selbst von Links gibt es Kritik: Der Soziologe Harald Welzer etwa kritisiert, dass die progressive Minderheitenpolitik der „neuen Liberalen“ von Blair bis Clinton nur ein Feigenblatt war für die Durchsetzung einer neoliberalen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Und die Linke sich dafür einspannen ließ. Ist da nicht was dran?

Sich solche Fragen zu stellen, ist wichtig. Es gibt mittlerweile gute Studien darüber, wie emanzipatorische Forderungen in neoliberale Systeme inkorporiert wurden: Dass etwa die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, eine wichtige feministische Forderung der Neuen Frauenbewegung, am Ende dazu führte, dass Arbeitgeber jetzt ständig Zugriff auf Arbeitnehmerinnen auch zu Hause haben. Da fand gewissermaßen ein Hijacking feministischer Positionen für eine neoliberale Agenda statt.

Aber führt Identitätspolitik nicht zu einer Aufspaltung des linken Lagers in partikulare Befindlichkeiten und Rollen?

Das ist eine Außenperspektive derer, die anscheinend das Gefühl haben: Jetzt haben alle geredet, jetzt reicht’s aber mal. Es wird aber niemals reichen. Schauen Sie sich die Entwicklung der Demokratie an. Die Forderungen nach Gleichheit gingen einher mit der Verbannung von Frauen ins bürgerliche Heim unter Verweigerung bürgerlicher Rechte. Oder die Sklaverei: Die war gängige Praxis in einer Zeit, als unsere moderne Demokratie ihren Anfang nahm. Die Vorstellung menschlicher Gleichheit galt zunächst nur für besitzende, weiße, sesshafte, nichtjüdische Männer und wurde erst nach und nach geöffnet.

Rechte wurden ja aktiv erkämpft – von den benachteiligten Gruppen gegen die Privilegierten.

Ja, deshalb sind Einwände von People of Color, von Frauen, von Lesben, Schwulen und Trans nicht marginal, sondern betreffen unsere ganze Gesellschaft.

Sie sind auch eine passionierte Bergsteigerin, haben ein Buch über bergsteigende Frauen geschrieben. Auf dem Berg – sind das Momente, in denen Sie sich mal ganz im Einklang mit Ihrer Identität als Schweizerin fühlen können?

Sehen Sie, auch da setzt das kritische Denken nicht aus… Die Vorstellung, dass sich Schweizer Identität in der Liebe zu den Bergen niederschlägt, geht auf die nationalistischen Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts zurück. Aber sagen wir mal so: Als Subjekt moderner Diskurse wurde ich auch von ihnen geformt, auch von demjenigen über die Schönheit der Alpen.

Und wurden zu der, der Sie sind…

Ich bin in einem ländlichen Kontext aufgewachsen, meine Eltern waren keine AkademikerInnen. Aber ich gehörte zu einer Generation, in der Bildungsaufstieg möglich war. Deshalb halte ich einen demokratischen Zugang zu Bildung, der heute vielerorts in Frage gestellt wird, für zentral.

Verstehen Ihre Eltern, was Sie beruflich tun?

Ein gewisses Verständnis ist da. Auch meine Eltern waren Bildungsaufsteiger, sie haben Berufslehren gemacht. Das Interesse an Bildung und auch ein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit verbindet mich bis heute mit ihnen. Es war nicht einfach, von einem nichtakademischen Haushalt an die Uni zu gehen, aber ich hatte auch das Gefühl einer großen Freiheit: Ich hatte keinen Papa zu Hause, der meine Seminararbeit liest, es waren keine Fußstapfen für mich vorgezeichnet. Niemand hatte an der Uni auf mich gewartet, aber darum war der Raum auch unbesetzt.

Das brauchte sicher einigen Mut.

Ich will nichts romantisieren, es war schwierig. Und ich spürte immer wieder, dass andere gewisse Kenntnisse, einen gewissen Habitus von Haus aus mitbrachten, der mir fremd war – und es mir manchmal heute noch ist. Nicht selten hatte ich das Gefühl: Hier gehörst du nicht hin.

Das Gefühl, das Didier Eribon in „Rückkehr nach Reims“ beschrieb.

Genau das, nur war die soziale Barriere für mich nicht so hoch. Auch wenn es für eine mit meiner Herkunft näher liegend war, etwas Praktisches wie Wirtschaft oder Medizin zu studieren und nicht Philosophie. Ich hatte Glück, in entscheidenden Momenten auf die richtigen Leute zu treffen, die mich ermutigten, dranzubleiben.

Verbündete, sozusagen.

Den Begriff der Verbündeten finde ich übrigens ganz hilfreich für eine aktuelle Praxis der Solidarität. Also eine Solidarisierung bei Aufrechterhaltung der Differenz: Nicht: „ich bin und fühle wie du“, sondern: Ich bin bereit, mich mit dir zu solidarisieren, dir zuzuhören. Wo kommen beispielsweise feministische Musliminnen zu Wort mit ihren Sichtweisen und Forderungen? Bei den Musliminnen haben wir den „Schlumpf-Effekt“: Nur ganz wenige Stimmen kommen öffentlich zu Wort – und sollen ganz viele andere repräsentieren.

Ist der Feminismus nicht auch ein wenig schlumpfig, gewissermaßen?

Vielleicht. Aber das Tolle an neuen Phänomenen wie #Aufschrei oder den Women’s Marches ist, dass die Stimmen vielfältiger werden. Es gibt einen neuen, jungen, intersektionalen Feminismus, der sagt: Es gibt nicht nur eine Erzählung, nicht nur eine Diskriminierungserfahrung. Und er sagt auch: Wir wollen unsere Differenzen nicht hierarchisieren. Sondern die Komplexität der Verhältnisse aushalten.

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