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Forscher über vergessene NS-Opfer„Die Nazi-Narrative wirken fort“

Grüne und FDP wollen „Asoziale“ als vergessene Opfer der NS-Zeit anerkennen. Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher über eine Tradition des Hasses.

Im KZ Sachsenhausen war Frank Nonnenmachers Onkel Ernst als „Berufsverbrecher“ interniert Foto: dpa
Kevin Čulina
Interview von Kevin Čulina

taz: Herr Nonnenmacher, Donnerstag Nacht wurde im Bundestag über die Anerkennung der als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ durch die Nazis Verfolgten gesprochen. Wie haben Sie die Debatte empfunden?

Frank Nonnenmacher: Zunächst einmal bin ich sehr zufrieden damit, dass nach über 70-jährigem Schweigen im Bundestag die bislang ignorierten NS-Opfergruppen überhaupt diskutiert wurden. Das ist ein großer Erfolg unseres Appells, den die Abgeordneten der Grünen, der FDP und der Linken sehr empathisch befürwortet haben.

Aus der Union gab es Bedenken, ein interfraktioneller Antrag kommt seit einem Jahr nicht zu Stande.

Die Rede von Melanie Bernstein von der CDU lässt noch Raum für eine interfraktionelle Vereinbarung in den Ausschüssen. Sie hat zwar zu der Hauptforderung der beiden Anträge nicht Stellung genommen, aber sie hat die Träger der historisch-politischen Bildung ermuntert, Förderanträge für die Erstellung von Ausstellungen zu den ignorierten Opfern zu stellen. Das genau steht ja auch in unserem Appell als eine der notwendigen Konsequenzen aus einer offiziellen Anerkennung. Die Frage ist, ob die große Koalition ihr Versprechen im Koalitionsvertrag, bisher weniger beachtete Opfergruppen anzuerkennen, noch einlösen wird.

Wohnungslose, Arme, Streikende, Sexarbeiter*innen oder Swing-Tanzende wurden verfolgt, eingesperrt, teilweise sogar sterilisiert. Welche Rolle spielte diese spezifische Verfolgung im Nationalsozialismus?

Der „Asoziale“ und der „Gewohnheitsverbrecher“ bildeten den Gegenpol des von den Nazis gewollten Ideals vom fleißigen, leistungsstarken und an der Fortentwicklung der deutschen „Rasse“ interessierten Deutschen. Demgegenüber wurden Bettler, Wanderarbeiter, Wohnsitzlose und Fahrende Leute als ressourcenverbrauchende Schädlinge, als „nutzlose Esser“ bezeichnet. Sie wurden als „Ballastexistenzen“ erst verbal ausgegrenzt, dann real. Viele kamen in die Konzentrationslager, wo „Asoziale“ mit schwarzem und „Gewohnheitsverbrecher“ mit grünem Winkel markiert wurden. Für die SS waren sie dort eine beliebte Zielscheibe für Demütigungen und Qualen bis hin zum Mord.

Bild: Eva Fischer
Im Interview: Frank Nonnenmacher

geboren 1944 in Monsheim, ist emeritierter Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt am Main. 2014 veröffentlichte er eine Biographie seiner beiden Onkel, von denen einer als sogenannter „Asozialer“ von den Nazis im Konzentrationslager interniert wurde. In einer breit unterstützten Petition an den Bundestag forderte er 2018 die Anerkennung der NS-Opfergruppen der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“.

Wie erklärt sich die Entwürdigung sogenannter „Gewohnheits-“ und „Berufsverbrecher“?

Die Nazis behaupteten, dass der deutsche Staat „gesäubert“ sei, die Kriminalität so gut wie ausgerottet. Wer dennoch oder wiederholt straffällig geworden ist, der hatte in der Weltsicht der Nationalsozialisten bewiesen, ein kriminelles Gen in sich zu tragen. Und das sei der deutschen „Rasse“ eigentlich nicht eigen. Deshalb wurden solche Menschen, wie zum Beispiel mein Onkel Ernst, nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe ohne weiteres Verfahren in ein KZ eingeliefert und sollten dort „durch Arbeit vernichtet“ werden.

Die Nazis internierten Ihren Onkel Ernst Nonnenmacher als „Asozialen“ im Konzentrationslager. Wie wurde diese Geschichte in Ihrer Familie nach 1945 aufgearbeitet?

Mein Onkel Ernst kam als „Berufsverbrecher“ erst ins KZ Flossenbürg, dann bis zur Befreiung nach Sachsenhausen. In den Nachkriegsjahren bemühte er sich vergeblich als „Opfer des Nationalsozialismus“ anerkannt zu werden. Sehr schnell wurde ihm gesagt, was bis heute gilt: er sei weder politisch, religiös noch rassisch verfolgt, also zu Recht im KZ. Dieses Etikett hat ihn sehr gekränkt und er hat, wie fast alle ehemaligen KZ-Häftlinge mit schwarzem und grünem Winkel, geschwiegen.

Das heißt, die Scham der Opfer überwog?

Genau. Scham und die Erkenntnis, dass für Menschen wie ihn kein Verständnis da ist. Erst Anfang der 70er-Jahre hat er sich mir und später auch anderen geöffnet. Während Ernst im KZ war, war sein Bruder Luftwaffenpilot. Zwischen ihnen hat es nie auch nur ein einziges Gespräch über diese Zeit gegeben. Ernsts Geschichte ist auch ein Anlass für den Appell, der jetzt im Bundestag debattiert wird.

Die Öffentlichkeit fehlte gänzlich. Wieso?

Das liegt zunächst einmal daran, dass die Toten nicht mehr reden können. Und Überlebende dieser Opfergruppen schwiegen in aller Regel nach 1945. Sie haben keine Interessengruppe gebildet, die sich öffentlich wirksam zu Wort gemeldet hätte. Sie haben keine Autobiografien verfasst, sind nicht öffentlich aufgetreten und wurden aus der deutschen Erinnerungskultur ausgeblendet. Auch die Wissenschaft hat sich jahrzehntelang nicht mit dieser Opfergruppe beschäftigt, bei Entschädigungen wurde sie nicht beachtet. Und zu einem großen Teil haben die anfangs erwähnten Narrative über „Asoziale“ und „Gewohnheitsverbrecher“ fortgewirkt – zum Teil bis heute.

Erwerbslose werden heute als „Sozialschmarotzer“ entwürdigt, das private Fernsehprogramm als „Assi-TV“ geschmäht. Wieso fehlt hier ein kritisches Bewusstsein?

Es genügt eben nicht, wenn sich Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen immer wieder bemühen, gängige Beleidigungen wie „du Assi“ oder gar das Wort „Jude“ als Schimpfworte zu bekämpfen. Hier müssten alle als Vorbild wirkenden Ikonen, wie Spitzensportler, Showstars, YouTuber oder „Influencer“ viel deutlicher Stellung beziehen. Auch den neuen Rechtsextremismus sehe ich hier als eine Gefahr. Ein eventueller Beschluss des Bundestages im Sinne der aktuellen Anträge wäre ein wichtiger Beitrag für mehr Sensibilität und kritisches Bewusstsein.

Welche ideologischen Kontinuitäten zeigen sich bis heute?

Ein wichtiger Baustein für das Fortbestehen diskriminierender Zuschreibung besteht in der Individualisierung sozialer Verhältnisse. Es ist eben so, dass in der immer ungerechter werdenden Gesellschaft soziale Not und sogar Delinquenz systematisch produziert werden. Durch die Logik der immer radikaler werdenden neoliberalen Wirtschaftsordnung. Das wollen viele nicht wahrhaben. Sicher hat jeder Mensch eine Selbstverantwortung, auch jeder Bettler, jeder Wohnsitzlose. Aber zugleich ist er den Verhältnissen unterworfen, die seine Situation verstehbar und erklärbar machen. Eben darum muss man sich bemühen, anstatt vorschnell das „selbst schuld“ auszusprechen – und sich dadurch selbst zu entlasten.

In den 80ern feierten Punkbands sich als „asozial“ oder „Asis mit Niwoh“, heute nennen Rapper sich Azzlack, kurz für „asoziale Kanacken“. Die Diskriminierung wird sich popkulturell angeeignet. Eine geeignete Strategie?

Solange es primär der Selbstdarstellung dient, glaube ich nicht, dass es nachhaltig funktioniert. Es scheint ja den Homosexuellen gelungen zu sein, die den rosa Winkel positiv besetzt und zu ihrem Signum gemacht und auch das Wort „schwul“ zum großen Teil von seinem stigmatisierenden Charakter befreit haben. Aber letztlich wichtiger und entscheidender war die jahrzehntelange und beharrliche Arbeit der Schwulen und ihrer Verbände selbst, die ein langsames Umdenken in Politik und Gesellschaft hervorgebracht hat.

Vielmehr sollte also das Leid aufgearbeitet und anerkannt werden?

Nach über 70-jährigem Schweigen ist die Debatte im Bundestag so wichtig. Die Schwarz- und Grünwinkligen als Opfergruppen anzuerkennen wäre ein so wichtiges Signal, es würde sie in die Reihe der Verfolgten des Nazi-Regimes stellen. Skandal genug, dass das für die direkt Betroffenen fast zu spät kommt. Für die Nachkommen, die bislang das schamhafte Schweigen fortgesetzt haben, bedeutet es aber eine Ermutigung sich mit ihrer Familiengeschichte unvoreingenommen zu beschäftigen. Und für unsere Erinnerungskultur könnte es eine Bereicherung sein, dass wir uns auch mit den verdrängten Seiten der Vergangenheit auseinandersetzen.

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10 Kommentare

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  • Wenn man nicht will, dass sich totalitäre Systeme wiederholen, wenn man wissen will, warum der Faschismus erfolgreich war, sollte man sich nicht mit den Opfern beschäftigen, so wie man das die letzten 70 Jahre getan hat.



    Die Täter haben nicht interessiert, man könnte ja einen finden. Jetzt wo die Täter aussterben, sucht man auch Täterinnen. Dagegen hat man jetzt eine wunderschöne Messlatte und unterscheidet zwischen guten und schlechten Opfer die sich um die ihrer Gruppe zustehenden Entschädigungen streiten.



    In der Liste der Opfer fehlen noch immer die gemäßigten demokratischen Politiker, die man als erste "abgeholt und mitgenommen" hat. Die Nazis waren ja nicht blöd.

    Die Täter des linken stalinistischen Totalitarismus streiten 100 Jahre nach Weimar wieder auf der Straße gegen den rechten faschistischen Totalitarismus als selbstermächtigte Kämpfer für die Demokratie.

    Nichts gelernt aus der Geschichte.

  • Die Kommentare scheinen mir als ob jemand den Begriff fuer Freude in ein rechteckiges Symbol geben muesse, dabei ist der Tv und Medienkonsum aeusserst reich und schwer zu verstehen und enthaelt viele Informationen. Es ist ja nicht schwer zu vermuten, dass dort Sicherheit herrscht und zwar nur dort. Vor allem witzig dann die Umkehrung, dass die Motivation und das Glueck des Medienschaffenden in der guten Bezahlung liegt wozu es viele Fans und Untertanen braucht, also ein Scheinbegriff, der nur erklaert wie Dritte sich gegenueber dem Analysevorsprung verhalten, falls dieser nicht in einem akademischen Titel muendet, der automatisch nach Anzahl bearbeiteter Bits vergeben werden sollte.

  • "Ein wichtiger Baustein für das Fortbestehen diskriminierender Zuschreibung besteht in der Individualisierung sozialer Verhältnisse. Es ist eben so, dass in der immer ungerechter werdenden Gesellschaft soziale Not und sogar Delinquenz systematisch produziert werden. Durch die Logik der immer radikaler werdenden neoliberalen Wirtschaftsordnung. Das wollen viele nicht wahrhaben. Sicher hat jeder Mensch eine Selbstverantwortung, auch jeder Bettler, jeder Wohnsitzlose. Aber zugleich ist er den Verhältnissen unterworfen, die seine Situation verstehbar und erklärbar machen. Eben darum muss man sich bemühen, anstatt vorschnell das „selbst schuld“ auszusprechen – und sich dadurch selbst zu entlasten."



    Wie wahr! Herr Nonnenmacher, danke für Ihre klaren Aussagen.

  • "Biologen verwenden für 'Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben', übereinstimmend die Bezeichnung 'Parasiten'."

    SPD-Broschüre 2005. Die Musik von damals ist heutzutage immer noch ein Klangteppich...

    • @agerwiese:

      Ihr Zitat wirkt sehr aus dem Zusammenhang gerissen. Bitte verlinken Sie, wenn möglich, die gesamte Broschüre, um eine Einordnung und Bewertung zu ermöglichen. Ist das Zitat affirmativ gemeint, oder wird seine Anwendung auf Menschen und menschliche Gesellschaft abgelehnt?



      Im übrigen sind aus biologischer Sicht die Parasiten am erfolgreichsten, die ihre Wirte nicht übermäßig schädigen und auf friedliche Koexistenz, wenn nicht gar Symbiose zu beiderseitigem Vorteil aus sind.

  • Die Markierung als "Asoziale" war sicher auch ein wirksames Ventil für die massenhaft durch die menschenfeindlichen Erziehungstraditionen erzeugten Aggressionen und gleichzeitig ein wirksames Mittel der Einschüchterung. Eine Zeitzeugin sagte mir einmal: " Es hat jeder jeden schief angekuckt."

  • 9G
    94797 (Profil gelöscht)

    Das Privatfernsehen IST Asi- TV.



    Die Menschen die den ganzen Tag vor der Glotze hängen,die "Asis" sind nicht die Wohnsitzlosen Sexarbeiterinnen, Drogenkonsumierende, Swingtanzenden, Dandys..... , welche Opfer der Nazis mit grünem und schwarzen Winkel waren.

    Die "Asis " sind oft die, die Nazis grossgemacht habenund die AfD grossmachen und haben nix mir der bezeichneten Klientel zu tun.

    • @94797 (Profil gelöscht):

      Asozial ist nicht, den ganzen Tag vor der Glotze zu hängen, wenn man nie etwas anderes gelernt hat. Asozial ist es, sich auf Kosten solcher Leute profilieren zu wollen.

      Für die eigene Herkunft kann man nichts. Wer das Glück hatte, in einem halbwegs intakten Umfeld aufzuwachsen, sollte sich darauf besser nicht all zu viel einbilden. Das ist nämlich keine Leistung sondern bloß Glück. Und es verpflichtet eigentlich dazu, etwas vom eigenen Vorteil abzugeben. Allerdings wohl nicht in einer Gesellschaft, die ihr Nazi-Erbe immer noch partiell in Ehren hält.

      • 9G
        94797 (Profil gelöscht)
        @mowgli:

        Sie haben im Teil recht

        "Asis gibt es in verschiedenen Varietätem.Einmal die aktiven "Sozialschmarotzer " in Politik, Wirtschaft und als deren Wasserträger aus den Medien.



        Dann die passiven, von denen i ch geschrieben habe.



        Die interessiert nur ihr Metabolismus.



        Man ist irgendwann mal abgeschaltet.



        Das gilt für den aktiven"Asi"gebsusi wie für den passiven.



        Und, es ist eben nicht nur " Glück " .Sondern tatsächlich auch ein Stück Selbst-Verantwortung.Die will ich Leben.Diese Frage kann man an Ende nur selbst angehen.



        Auch wenn die Linke gerne das Opfernarrativ als alleinige Ursache bedient.

  • Herr Nonnenmacher hat völlig recht: das "Gewohnheitverbrechergesetz" 1934 war ein Probelauf für die späteren Vernichtungen von Menschen, die man als "gemeinschaftsfremd" einstufte.