Flutkatastrophe in Westdeutschland: Aufräumen und Trauern
Die Zahl der Toten steigt weiter. Bundespräsident Steinmeier besucht das Katastrophengebiet. Und auch die Kanzlerin hat sich angekündigt.
Der Ruf nach Hilfe aus allen Teilen der Region sei „groß und drängend“. „Aber den großen Verlust haben diejenigen zu tragen, die Angehörige verloren haben in den Fluten“, sagte Steinmeier weiter. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bezeichnete das Hochwasser bei dem Erftstadt-Besuch mit Steinmeier als „Jahrhundertkatastrophe“. Land und Kommunen könnten die Folgen der Flut nicht alleine stemmen.
Der NRW-Regierungschef und Unions-Kanzlerkandidat versprach Direkthilfe für die betroffenen Menschen und sagte zu, es werde „sehr unbürokratisch Geld ausgezahlt“. Danach werde man zusammen mit dem Bund „strukturell“ den Städten helfen müssen, den Wiederaufbau zu bewerkstelligen. Am Sonntag wird auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der schwer verwüsteten Region in Rheinland-Pfalz erwartet.
Allein im Großraum Ahrweiler über 90 Todesopfer
In den Trümmern und Ruinen der Katastrophengebiete im Westen werden immer mehr Opfer der Hochwasserkatastrophe entdeckt. Die Zahl der Toten stieg bis zum Samstagmorgen auf mehr als 130. Die Polizei bezifferte die Zahl der Todesopfer allein im Großraum Ahrweiler auf über 90. Es sei zu befürchten, dass noch weitere hinzukämen, teilte die Polizei Koblenz mit. Insgesamt liege dem Polizeipräsidium die Meldung über 618 Verletzte vor. Auch diese Zahl könne sich noch weiter erhöhen.
Mehr als zwei Tage nach dem Unglück werden immer noch Menschen vermisst. In Nordrhein-Westfalen gab es nach Angaben des NRW-Innenministeriums landesweit mindestens 43 Todesopfer und viele Verletzte. In der besonders vom Hochwasser betroffenen nordrhein-westfälischen Ortschaft Erftstadt-Blessem gibt es dagegen bislang keine bestätigten Todesopfer. Da die Arbeiten der Rettungskräfte aber noch in vollem Gange seien, könne man nicht ausschließen, noch Todesopfer zu finden, sagte ein Kreisprecher am Samstagmorgen der Deutschen Presse-Agentur. Die Lage sei aber weiter angespannt.
In Rheinland-Pfalz hatte Innenminister Roger Lewentz (SPD) am Freitag noch von 63 Todesopfern gesprochen. Die Zahl der Verletzten in Rheinland-Pfalz lag bei 362. Die Such- und Rettungsarbeiten gehen auch dort weiter. Noch immer sind Tausende Rettungskräfte in der Eifel, wo in der Nacht zum Donnerstag die Wassermassen ganze Orte verwüstet hatten.
Hotline für Vermisstensuche eingerichtet
Laut Frühwarnprognose des Landesamts für Umwelt Rheinland-Pfalz verringerte sich die Hochwassergefahr zuletzt. In vielen Ortschaften fiel weiterhin das Strom- und Telefonnetz aus. Angehörige, Freunde oder Bekannte, die jemanden vermissen, können sich unter der Rufnummer 0800 6565651 bei der Polizei melden.
In der Nacht war die Polizei nach Angaben des Präsidiums mit vielen Einsatzkräften in den betroffenen Ortslagen im Einsatz. Durch das Unwetter seien zahlreiche Straßen im Ahrtal weiterhin gesperrt oder nicht mehr befahrbar.
Durch das Abfließen der Wassermassen werden die von den Fluten angerichteten Schäden an Ahr und Mosel sichtbar. Auch die Infrastruktur hat schweren Schaden genommen: In dem besonders stark betroffenen Landkreis Ahrweiler sind Straßen gesperrt und Brücken zerstört, der Zugverkehr ist in Rheinland-Pfalz wegen der Überflutungen weiterhin massiv beeinträchtigt. Hunderte Rettungskräfte sind auf der Suche nach Toten, Verletzten und Vermissten. Bei dem Schadensausmaß sei mit weiteren Opfern zu rechnen, sagte ein Polizeisprecher am Samstagmorgen. „Der Einsatz läuft auf Hochtouren.“
Eine besonders dramatische Lage hatte sich in Erftstadt-Blessem südwestlich von Köln ergeben: Dort kam es zu gewaltigen Erdrutschen, es bildeten sich Krater im Erdreich, drei Wohnhäuser und ein Teil der historischen Burg stürzten ein.
Stadtteil an der Rur nach Dammbruch evakuiert
Im nordrhein-westfälischen Wassenberg an der Grenze zu den Niederlanden wurde nach dem Bruch eines Damms der Rur der Stadtteil Ophoven evakuiert. Rund 700 Anwohner waren davon betroffen. Die Lage war am frühen Morgen laut Mitteilung der Stadt weiter angespannt. Der zuständigen Kreispolizei Heinsberg und der Bezirksregierung Köln waren am Morgen aber keine besonderen Vorkommnisse aus der Nacht bekannt. „Insgesamt stagnieren die dortigen Wasserpegel derzeit“, teilte die Stadt Wassenberg mit.
Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock reiste nach dem Abbruch ihres Urlaubs in die Krisengebiete. Wie eine Sprecherin am Freitagabend mitteilte, will sich die Parteichefin vor Ort über die Lage der Menschen informieren. Dabei verzichte sie bewusst auf Pressebegleitung oder öffentliche Auftritte. Den Angaben zufolge traf Baerbock am Freitag in Mainz ein. Auf Twitter schrieb sie dazu: „Die Gespräche gehen unter die Haut. Nach wie vor sind nicht alle Orte erreicht, Menschen weiter abgeschnitten. Zugleich gibt es eine unglaubliche Solidarität zu helfen, Betroffene zu Hause aufzunehmen und zu unterstützen.“ Für Samstag sind weitere Termine Baerbocks in Nordrhein-Westfalen angesetzt.
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) sagte der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Samstag): „Wir wissen, dass solche Extremwetterereignisse zunehmen werden. Daher brauchen wir entsprechende Anstrengungen beim Klimaschutz – in Deutschland, aber auch weltweit.“ Die Akteure in Bund, Land, Städten und Kreisen sowie Hilfsorganisationen seien „leistungsfähig, aber für bundesweite Krisenszenarien brauchen wir einen verlässlichen Rahmen“. Es dürfe nicht so weit kommen, dass das Leben an Flüssen und Küsten in Deutschland nicht mehr möglich sei.
In Nordrhein-Westfalen sind nach Angaben des Innenministeriums rund 22 000 Einsatzkräfte von Feuerwehr und Hilfsorganisationen wie dem Technischen Hilfswerk (THW) an den Rettungsarbeiten beteiligt. Hinzu kämen 700 Beamte der Landespolizei und Kräfte der Bundespolizei sowie Einsatzkräfte aus Hessen, Niedersachsen und Hamburg. Die Koordinierungsgruppe des Krisenstabs Nordrhein-Westfalen tausche sich rund um die Uhr zur aktuellen Lage bei der Hochwasserkatastrophe aus und helfe landesweit bei der Koordinierung, hieß es am Samstagmorgen in Düsseldorf.
Hochwasser entlang der Maas
Im Süden der Niederlande haben die Anwohner entlang der Maas am Samstag mit Sandsäcken und Schutzmaßnahmen den Kampf gegen das Hochwasser fortgesetzt. Mit einem Absinken des Wassers wurde in Roermond am Sonntagmorgen und in Venlo am Sonntagabend gerechnet, teilten die Behörden mit.
In Venlo an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen war am Freitag ein Krankenhaus mit 200 Patienten vorsorglich evakuiert worden. In der Stadt und umliegenden Orten wurden Tausende Menschen zum Verlassen ihrer Wohnungen aufgerufen. Zwar richteten die Fluten erhebliche materielle Schäden an, Berichte über Verletzte gab es aber nicht. Unterdessen riefen die Behörden Schaulustige auf, zu Hause zu bleiben, und drohten mit Bußgeldern. Wie die Stadt Venlo mitteilte, überwachte die Polizei auch aus der Luft die evakuierten Gebiete und die Deiche.
Hochwasser und Springfluten haben in Belgien bisher 24 Menschen das Leben gekostet. Das teilte das Krisenzentrum am Samstag mit und erklärte, man rechne mit weiteren Toten. Der Bahnverkehr und zahlreiche Straßen waren am Samstag im Osten Belgiens weiterhin blockiert. In der schwer getroffenen Ortschaft Pepinster brach eine Café-Besitzern in Tränen aus, als König Philippe und Königin Mathilde am Freitag die Menschen dort besuchten, um ihnen Trost zu spenden. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo besuchten nach einem Bericht des Rundfunksenders RTBF am Samstag das Katastrophengebiet.
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