Flutkatastrophe in Spanien: Vor dem Nichts
In Spanien wird nach der Flut das Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Zu Besuch bei Menschen, die fast alles verloren haben.
Pilar Cubilles steht vor dem Nichts. Die Erdgeschosswohnung in ihrem Zweifamilienhaus in der Straße Las Eras unweit des Rathauses von Aldaia ist leer, völlig leer. Keine Möbel, keine Bilder, kein Geschirr, nichts, selbst die Türen und die Türrahmen fehlen. „Das Wasser hat sie herausgerissen, das Sperrholz ist aufgequollen“, sagt die 81-Jährige. „Mir bleibt nur dieser Tisch. Den hat mein Vater gemacht.“ Das massive, gute Stück mit geschwungenen Beinen steht in einer Ecke – gereinigt und getrocknet. Zusammen mit ihrem Neffen Cesar Belloch hat Cubilles aufgeräumt. Der Steinboden ist blitzblank. Nur der schlammige Strich an den Wänden auf rund 1,70 Meter Höhe rings herum zeigt noch, bis wohin das Wasser stand.
Aldaia, fünf Kilometer westlich der Stadt Valencia gelegen, ist eines der Dörfer, die Ende Oktober von der Flutkatastrophe in der spanischen Mittelmeerregion Valencia heimgesucht wurden. „Es wurde gerade dunkel, als die Flut kam“, erinnert sich Pilar Cubilles. Sie war im Obergeschoss, ihr Neffe unten auf der Straße.
„Wir sind es hier gewohnt, 20, 30 Zentimeter Wasser zu haben, wenn der Fluss übers Ufer tritt“, sagt Belloch. Auch am 29. Oktober hängte er das 50 cm hohe Sperrblech zum Hochwasserschutz ein, das hier alle Eingangstüren haben. Doch dieses Mal reichte es nicht. „Es dauerte nur ein paar Minuten und das Wasser drang in die Wohnung ein“, erinnert er sich. „Dabei hatte es hier nicht einmal geregnet“.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Anders als 30 Kilometer entfernt im Landesinneren. Dort fiel in wenigen Stunden soviel Regen wie sonst in einem Jahr. Als Tsunami beschreiben die Menschen, die flussabwärts wohnen, das, was an jenem Tag geschah. Belloch ging in die Wohnung, das Wasser stieg und stieg. Seine Tante warf einen Strick vom Obergeschoss in einen Lichtschacht. Er kletterte über Fenstersimse und die Klimaanlage nach oben.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
„Ohne meine Tante hätte ich das nicht überlebt“, ist er sich sicher. So wie eine 80-jährige Frau, die schräg gegenüber wohnte. Sie ertrank in ihrer Wohnung und ist eines der sechs Todesopfer in Aldaia. 211 sind es mittlerweile im ganzen Überschwemmungsgebiet in der Region Valencia. Über 80 Personen werden noch immer vermisst.
Die Handyalarme schrillten zu spät
Die verstorbene Nachbarin Teresín – die valencianische Koseform für Teresa – „war alleine, keiner konnte sie retten“, erzählt Pilar Cubilles. „Wir waren von Kindesbeinen an befreundet, sind gemeinsam hier im Stadtteil aufgewachsen.“ Sie schweigt bedrückt und meint dann: „Wir können uns glücklich schätzen. Wir haben alles verloren, aber wir leben noch.“
Cubilles und Belloch haben noch nicht überschlagen, was sie das Desaster kostet. Anders als ihr Nachbar Rafa Catalá. Der Architekt hatte sein Büro im Erdgeschoss. Jetzt schleppt er alles auf die Straße, Möbel, Computer, Klimaanlage, alles vom Wasser zerstört. „Um die 40.000 Euro sind es sicher“, sagt der 61-Jährige. Hinzu komme das Auto, das um die Ecke in einer Garage stand. „Es war zwei Jahre alt und hat mich über 40.000 Euro gekostet.“
Er habe es eilig, sagt er immer wieder, müsse auf-, oder genauer: ausräumen. Aber dann bleibt er doch wieder stehen und redet weiter. Er berichtet, wie er, seine Frau und der Mops, der nun orientierungslos zwischen dem verschlammten Müll auf der Straße und dem zerstörten Büro hin und her läuft, vom Obergeschoss machtlos zusehen mussten, wie das Wasser ins Haus kam.
„Hätten sie rechtzeitig gewarnt, hätte ich wenigstens einen Teil der Einrichtung retten können, und die Nachbarin hätte auch überlebt“, sagt Catalá mit einer Stimme irgendwo zwischen Resignation und Wut. Doch die Handyalarme schrillten erst gegen 20 Uhr, da stand hier schon alles seit zwei Stunden unter Wasser.
Dann kommt der Architekt auf die fehlende Städteplanung zu sprechen. „Seit 2007 gibt es vom staatlichen Wasseramt ein Projekt, das Flussbett zu verlegen. Aber die Regionalregierung hat es nie umgesetzt“, berichtet er. „140 Millionen Euro hätte das gekostet. Jetzt sind es Milliarden an Schaden“, rechnet Catalá vor. 31 Milliarden Euro fordert die Regionalregierung unter Carlos Mazón von Madrid, um die Schäden zu beheben und den Opfern zu helfen, 10,6 Milliarden hat Spaniens Zentralregierung unter Ministerpräsident Pedro Sánchez bereits zugesichert.
Der Weg zur Normalität wird in Aldaia lang sein. 80 Prozent des 30.000-Einwohner-Ortes sind von der Flut betroffen. Seit Mitte der Woche gibt es immerhin wieder fließend Wasser. Es ist sogar trinkbar. Doch der Strom ist noch immer nicht zurück. Die Polizei hat nachts viel zu tun, immer wieder kommt es zu Diebstählen.
Fake News haben im Katastrophengebiet Hochkunjunktur
Vorm Rathaus verteilen Gemeindeangestellte alles, was es am dringendsten braucht. Putzmittel, Besen, Handschuhe, Seife, auch Essen und Trinkwasser. Es sind Spenden, die aus ganz Spanien eintreffen. Die Geschäfte im Ort fielen ebenso wie die Kneipen und Cafés dem Wasser zum Opfer.
Die Straßen sind immer noch voller Schlamm. Die Autos, die das Wasser mitgerissen hat und die vor Tagen noch die Fahrbahnen blockierten, wurden mittlerweile mit Geländefahrzeugen und Traktoren weggeräumt. Sie stehen am Straßenrand, als seien sie ordentlich eingeparkt. Doch zu retten sind sie nicht mehr. Sie alle standen ein bis zwei Meter tief im Wasser.
„Kaum jemand hat noch ein Fahrzeug“, sagt Arturo Lozano. Der 46-jährige Betriebsschlosser ist die Ausnahme. Er war, am Abend als die Flut kam, mit seinem Lieferwagen in einem Dorf weiter oben, wo er eine Zweitwohnung hat. Jetzt sitzt Lozano auf dem Gehsteig und reinigt sein Motorrad. Er entfernt die Zündkerzen, spült die Zylinder mit Benzin aus, reinigt Luftfilter und Vergaser. Dann plötzlich springt es an. Die zwei schnittigen Motorroller hinter ihm seien nicht zu retten. „Zu viel Elektronik“, urteilt Lozano.
Er schimpft – wie alle hier – auf die konservative Regionalregierung, die von der rechtsextremen VOX unterstützt wird. Und er schimpft auch auf die Linksregierung in Madrid. „Die einen haben versagt, die anderen schicken nicht genug Hilfe“, lautet sein Vorwurf. Dass die Hilfe von der Regionalregierung angefordert werden muss und deshalb nicht schneller kam – die verfassungsmäßige Kompetenzverteilungen im dezentralisierten Spanien interessiert angesichts der Zerstörung hier keinen. „Madrid hätte die Armee sofort schicken müssen“, sagt Lozano. „Und jetzt verschweigen sie sogar einen Teil der Toten, damit keiner das wirkliche Ausmaß der Katastrophe kennt“, fügt er hinzu und zitiert „Quellen“ aus den sozialen Netzwerken. Fake News von Rechtsaußen gegen die Linksregierung in Madrid haben im Katastrophengebiet Hochkonjunktur.
Angst um Jobs
Nicht nur Wohnung und Auto – so mancher läuft Gefahr, auch noch seinen Job zu verlieren. So etwa Sergio Sanfelix, der einen Straßenzug weiter einer Freundin beim Aufräumen der Garage hilft. „Ich war am 29. Oktober auf Spätschicht“, erzählt Sanfelix. Er ist Lagerarbeiter bei einem deutschen Zulieferer für die Automobilindustrie im Industriegebiet von Riba-roja de Túria, 15 Kilometer westlich. „Das Wasser stieg hier auf drei bis vier Meter, wo der reißende Strom auf Gebäude stieß, waren es bis zu sieben Meter“, erinnert sich der 33-Jährige. „Wir retteten uns ins Obergeschoss, in die Büroräume, dort verbrachten wir die ganze Nacht“, fährt Sanfelix fort: „Ein Kollege hat es nicht nach oben geschafft. Er ertrank in einem Raum unten im Lager.“ Mindestens weitere fünf Arbeiter im Industriegebiet ereilte das gleiche Schicksal.
Hier im Industriepark unweit des Mittelmeerhafens von Valencia sieht es auch mehr als eine Woche nach der Flut noch aus wie im Krieg. Die Fluten rissen alles mit: Tanks, Maschinen, Paletten, Waren aller Art. Sogar schwere LKWs schwammen davon. Planierraupen und die Armee öffnen Straße um Straße. Schlamm und Wasser stehen noch immer überall.
„Die Zerstörungen im Industriepark haben wirtschaftliche Auswirkungen nicht nur auf unsere Gemeinde, sondern auf die Region und auf ganz Spanien“, ist sich Roberto Raga, der 58-jährige Bürgermeister von Riba-roja de Túria, sicher. Das Gewerbegebiet – 20.000 Arbeitsplätze, 1.400 Lagerhallen auf sechs Quadratkilometern – ist die größte Ansammlung von Logistikunternehmen in der Region. Viele Großunternehmen und Handelsketten unterhalten hier Zentrallager. Alle wurden überschwemmt.
Der Sozialdemokrat Raga, der 2015 die langjährige konservative Gemeindeverwaltung ablöste, spricht von „Bausünden“. „Das Gewerbegebiet entstand Anfang der 1970er Jahre, noch vor der Demokratie in Spanien“, berichtet er. Risikoabschätzungen waren damals nicht wirklich ein Thema.
Der Industriepark liegt zwischen zwei Flussbetten, die meist leer sind, sich aber bei Regen schnell füllen. Der Barranco del Poyo, der für einen Großteil der Katastrophe in der Region verantwortlich ist, und der andere, der kleinere Pozalet, der nach einem Hafenausbau nicht mehr ins Meer fließt, sondern in Auffangbecken endet, von wo das Wasser umgepumpt wird. „Seit 2007 gibt es einen Plan des staatlichen Wasseramtes, um das Flussbett des Barranco del Poyo zu verbreitern und dem Pozalet wieder einen Abfluss zu geben“, sagt Raga. Doch die Regionalregierung von Valencia habe diesen Plan nie umgesetzt.
„Wir müssen die Wasserinfrastruktur an die neuen Gefahren anpassen und wir müssen eine entschlossene Klimapolitik machen, um den Klimawandel zu bekämpfen“, mahnt Raga – „denn der Klimawandel ist die Ursache für die Katastrophe“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour