Flüchtlingsunterkunft in Augsburg: Ein Grandhotel für Ankommende
Ein Altersheim war es, dann stand es leer – heute ist es ein Ort, der Flüchtlingen Heimat gibt. Zu Besuch im Grandhotel Cosmopolis in Augsburg.
Draußen: Das Augsburger Domviertel mit alten Gassen, die Obstmarkt, Schmiedberg oder Hinter der Metzg heißen. Auch Pfaffen- und Springergässchen. Da soll man, sagt eine Frau, die am gemeinsamen Mittagstisch im Keller des Grandhotels sitzt, früher mit der Kanne Milch geholt haben. Manchmal auch Bier.
Das Haus im Springergässchen 5, einem 60er-Jahre-Bau, sechs Stockwerke, die kerzengerade in der verwinkelten Altstadt stehen, war ein Altenpflegeheim, dann stand es leer. Jetzt ist es eine soziale Skulptur. (Das wird Peter Fiege später noch korrigieren.) Grandhotel Cosmopolis heißt es.
Drin: Die Hotellobby ist das Herz. Dort lernen sich Vorbeikommende kennen: Flüchtende, Reisende, Bleibende. Auf dem ausladenden Chippendalesofa (einer Kopie) sitzend, an der türkisfarbenen sechziger Jahre Theke mit der Espressomaschine (alles Geschenke) stehend, vor dem alten Röhrenradio kniend, um den Musiksender zu suchen, kommen sich die Gäste näher. Das ganze Hotel lebt im Vergänglichen, der Reichtum ist die Fantasie. Wände sind bemalt, mit Pferden, mit Adlern, mit Universen. Zimmer sind Kunstwerke.
10 Jahre Youtube: Wie die Videoplattform im Internet zur lukrativen Bühne für Profis und Jungsstars wurde, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 14./15. Februar 2015. Außerdem: Dupsy Abiola hat einen berühmten Vater, ein Start-up-Unternehmen und Visionen. Ein Gespräch über die damit verbundenen Freuden und Abgründe. Und: Was Wirtschaftsunternehmen an Universitäten anrichten, wenn sie Geld an Einfluss knüpfen. Hochschulwatch ist angesagt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Zimmer 407 (zum Beispiel) ist rot und pink bemalt, beschrieben, dekoriert. „Sieben Minuten später kam der Kuss, wir wissen nicht warum“, steht in einer Ecke, „nearly the perfekt smile“ in einer anderen, platt gehämmerte Kronkorken sind das Fries, Stöckelschuhe in den Wänden der Stuck. Dazu der unverstellte Blick auf den Dom.
Die Idee: Da war dieses leerstehende Haus. Künstler wollten es für Ateliers. Die Diakonie dagegen für Flüchtlinge. Da dachten sich die drei Initiatoren („vergiss Namen“, sagen sie): Das könnte man doch verbinden und noch mit einem Hotel kombinieren, damit es „zu einem echten Transitraum“ wird.
Vielleicht kann die Chaostheorie erklären, warum Utopien manchmal klappen. Auf jeden Fall haben sich die Initiatoren sogleich andere Leute ins Boot geholt. Der Schwarmintelligenz fiel viel ein, aber vor allem eins: Dass man so ein Projekt nicht gegen die Augsburger entwickeln soll, sondern mit ihnen.
Der Prozess: Eineinhalb Jahre haben viele Leute ehrenamtlich das Haus renoviert. Künstler und Künstlerinnen haben die Zimmer gestaltet. Die Phantasie der Leute hat sich in jeden Winkel gefressen – auch ein alter Wandschrank wurde umgebaut zu einer Art Schlafwagenkabine wie in asiatischen Zügen. Hotelgäste, die dort übernachten, zahlen nicht viel. Kaum war das Haus fertig, brachte die Diakonie schon Flüchtlinge unter. „Wir hatten keine Zeit aufzuatmen“, sagt Stef Maldener, Musiker und Musikproduzent, der von Anfang an dabei ist. Er hat sein Atelier im Haus.
Der Transitraum: Platz für 60 Flüchtlinge gibt es. „Gruppenunterkunft 15“ heißt es im Verwaltungsjargon. Die Diakonie ist Träger. Das Hotel hat 12 Doppelzimmer und vier Hostelzimmer mit Viererbetten. Verstreut über die Etagen kommen Ateliers und Werkstätten dazu. Wie viele Künstler arbeiten im Haus? „Wir zählen das nicht, jeder ist einer“, sagt Wolfgang Reiserer, Radiotechniker, der einen Minijob hat, den Barbetrieb und die Freiwilligen koordiniert.
Die Menschen: Niemand weiß, wer woher kommt, wohin geht. Ein Mann im Anzug nimmt sein Frühstück stets in der Lobby ein. Er nervt mitunter, fragt die Frau hinterm Tresen, ob sie neu sei. Nein, ist sie nicht. „Du bist gut proportioniert“, sagt er, löst Kreuzworträtsel in der Süddeutschen, fragt in den Raum „Fluss durch Braunschweig, ist das die Ücker, die Ücker?“ Amir, 20, und Dante, 25, älteste Söhne von syrischen Familien, sitzen auf dem Chippendalesofa. Aus Aleppo sind sie, ganz neu in Deutschland.
Einer war als Flüchtling kurz im Grandhotel untergebracht, hat sofort mitgearbeitet, wurde wieder verlegt in ein Dorf außerhalb. Hier ist Kontakt, sagt er. „Dort nicht.“ Die Fluchtgeschichte? Lang. Seeuntüchtige Boote kommen vor. Sie wollen nicht darüber reden. Eine Frau am Tisch hört zu, sagt: „Aleppo, schlimm, ich habe noch nie einen Toten auf der Straße liegen sehen.“ Dante lacht tonlos auf.
Aydin A., ein 32-jähriger aus dem Irak stammender Kameramann, der seit fünf Jahren in Deutschland lebt, für den das Grandhotel Sehnsuchtsort ist, übersetzt und kommentiert Dantes Lachen: „Er lacht, das ist die Panik.“ Dante sagt: „Sei froh, dass du Tote nicht gesehen hast, du hättest Alpträume.“
Gülüstan steht hinter der Theke. Dass sie 28 ist, zeigt sie mit den Fingern, eine alleinstehende Frau mit Tochter; aus Mossul kommt sie, Jesidin, lebt im Grandhotel, backt Kuchen und kocht. Die Praktikantin aus Lüneburg sagt, sie sei gerade auf Orientierungssuche.
Die zwei Damen aus Kaufbeuren machen dort seit 25 Jahren Flüchtlingsarbeit „mit dem Rücken zur Wand“. Sie haben sich eine Nacht eingemietet, um zu sehen, wie die im Grandhotel es machen. „Hier ist echter Kontakt“, sagt die Ältere. In Standardheimen gebe es nur „Willkommenskultur“. Sie schüttelt den Kopf. „Willkommenskultur, das ist für mich das Unwort des Jahres.“
Kommen und Gehen: Es gibt Gruppen, die sich irgendwo im Haus treffen, die Flüchtlingsgruppe, Greenpeace, Frauengruppen. Sie nennen die Gruppen Container. Barcontainer, Veranstaltungscontainer, Handwerkscontainer. Es gibt einen Denkraum, einen Seminarraum, einen Gesundheitsraum. „Du siehst nicht, wer Gast ist, wer Flüchtling“, sagt Leo Breitmeier. „Panidelnik dwa yaza“, ruft er einem Tschetschenen zu, der durch die Bar geht. Montag um zwei ist der Termin beim Traumatherapeuten. Seit 17 Jahren wartet der Mann auf die Anerkennung seines Asylantrags, sagt Leo.
Leo, 36, ist der Übersetzer für Russischsprechende und der erste Azubi des Grandhotels. Er kam mit 15 als Spätaussiedler nach Deutschland. Er hat viel angefangen, Koch, Friseur, war Travestiekünstler. Er kennt die Initiatoren, war sofort dabei, hat Konzerte organisiert, im Club im Keller, das Grandhotel ist eine bekannte Off-Location in Augsburg. Jetzt ist Leo eine gute Seele im Haus. Sein Charme umwerfend.
Leo zeigt das Hotel: Er kenne, sagt Leo, alle Flüchtlinge, und er habe in allen Zimmern geschlafen, um zu wissen, wie es da ist, er kennt jeden Raum, jeden Schlüssel. Als Azubi macht er alles. Auch Zimmerservice. Flüchtlinge machen das auch hin und wieder, „aber es geht darum, dass klar ist: es gibt keine niederen Arbeiten“, sagt er. Er zeigt das Nähzimmer, Industriemaschinen stehen drin, er zeigt den Raum, der Backstube werden soll, er zeigt den Raum, wo demnächst auch Essen für Gäste angeboten werden soll.
„Es muss Plattformen geben, wo die Flüchtlinge sich einbringen können.“ Er zeigt die Küche und den Musikclub im Keller, wo jeden Tag am langen Tisch zusammen gegessen wird. Am Donnerstag wird schwäbisch gekocht. Eine Nachbarin ist Küchenchefin. „Wir sind keine soziale Skulptur“, präzisiert Peter Fiege bei Kässpätzle. „Wir sind eine Plastik.“ Bei einer Skulptur nimmt man etwas weg. Bei einer Plastik tut man was hinzu.“
Die soziale Plastik: Wenn das Grandhotel Hilfe braucht, setzen sie ihr Anliegen auf die Homepage. Die Feuerleiter ist so eine Geschichte. Ein Mann aus dem Allgäu rief an, er hat welche für wenig Geld. Ohne Notausgang keine Eröffnung des Hotels hatte die Feuerwehr verfügt. Jetzt sieht es ein wenig aus wie in New York.
Organismus: „Wir nennen das Haus Organismus“, sagt Roi Kfir. Roi – König? Nein, sagt er, im Hebräischen heißt es „mein Hirte“. Er ist aus Israel, hat Friedensarbeit mit Israelis und Palästinensern gemacht. Im Grandhotel macht er Friedensarbeit zwischen Deutschen und Flüchtlingen. Es geht ohne Worte.
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