Flüchtlingscamp in Berlin-Kreuzberg: Räumung von Utopia
Seit über einem Jahr zelten Asylsuchende mitten in Berlin. Die Grünen in Kreuzberg unterstützten sie lange – jetzt riefen sie die Polizei.
BERLIN taz | Drei Stunden vor der Randale steht Monika Herrmann mitten im Protestcamp, allein. Rechts das Infozelt mit der verschlissenen Fahne, „Kein Mensch ist illegal“. Links die weißen Großzelte. „Natürlich wird es unschöne Bilder geben“, sagt Herrmann.
Es gibt unschöne Bilder.
Mehr als ein Jahr haben mitten in Berlin rund 100 Flüchtlinge in einem Zeltdorf gelebt. Auf dem Oranienplatz, einem unscheinbaren Rund mit Apotheke und türkischer Teestube an der Ecke. Nach einem 500 Kilometer langen Protestmarsch waren die Flüchtlinge im Oktober 2012 in Kreuzberg gelandet, hatten dort ihr Camp errichtet. Natürlich in Kreuzberg.
Das Bezirksamt, grün geführt, duldete die Besetzung sofort. Man solidarisiere sich mit den Forderungen, „gegen die inhumanen diskriminierenden Gesetze“. Auch als die Flüchtlinge wenig später eine leerstehende Schule besetzten, erteilten die Grünen eine Duldung. Bis zum Frühjahr. Und als das Frühjahr da war, bis auf Weiteres.
Im August wurde Monika Herrmann Bürgermeisterin. Eine forsche Frau mit kurzen Haaren, lesbisch, eine der Linken bei den Grünen. Als Rechtspopulisten vor das Flüchtlingscamp zogen, stand Herrmann in der ersten Reihe der Gegendemonstranten. Das Camp, sagte sie bei ihrem Antrittsinterview in der taz, sei ein „politisches Mahnmal“. Die Flüchtlinge sollten entscheiden, wie lange sie dort blieben.
Ein Kampf gegen Windmühlen? Flüchtlingsproteste zwischen Residenzpflicht und RechtspopulistInnen.
Die Proteste von Asylsuchenden in Deutschland reißen nicht ab. Aber was hat die Flüchtlingsbewegung erreicht? Eine Zwischenbilanz
Es diskutieren:
Napuli Langa, Flüchtling aus Südsudan, lebt heute im Camp auf dem Oranienplatz
Bruno Watara, Flüchtling aus Togo, heute Bewegungsarbeiter
Helmut Dietrich, Forschungsgesellschaft Flucht und Migration
Homaira Adeel, Women in Exile.
Moderation: Christian Jakob, taz-Redakteur
Am 4. 12. 2013, 19 Uhr im taz-Café, Rudi-Dutschke-Str. 23, Berlin, Eintritt frei
Eine gemeinsame Veranstaltungsreihe von tageszeitung, Institut für Protest- und Bewegungsforschung, Bewegungsstiftung, Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Unschöner Sinneswandel
Und dann geht Herrmann am Sonntag um 16 Uhr auf den Oranienplatz und verkündet das Ende. Sie hebe die Duldung nun auf, teilt sie den Flüchtlingen mit. In einer halben Stunde sei die Polizei da, sie habe um Amtshilfe gebeten. Mit zehn Einsatzwagen rollt die heran, 150 Beamte. Doch auch die Kreuzberger kommen, alarmiert über SMS-Ketten. Mehr als 600 stehen plötzlich im Camp. Auch als Bezirk und Polizei den Einsatz abbrechen, tönen noch die „Haut ab!“-Rufe.
„Das hier“, ruft ein Mann ins Megafon, „hat Monika Herrmann zu verantworten.“ Dann zieht die Masse auf die Straße, Spontandemo. Die erste Reihe rennt los, Polizisten hecheln hinterher. Es fliegen Flaschen, die Beamten sprühen Pfefferspray. An das Grünen-Büro klatschen drei rote Farbbeutel.
Die unschönen Bilder. Wie konnte das passieren?
Monatelang schienen die Kreuzberger und ihr grünes Bezirksamt unzertrennlich. Immer heftiger dafür die Kritik von außen, gegen den Bezirk und seine Duldungspolitik. Gutmenschen, die Flüchtlinge in Kälte und Dreck hausen ließen. CDU-Innensenator Frank Henkel schimpfte über die „rechtswidrigen Zustände“. Dilek Kolat, die SPD-Integrationssenatorin, sprach von einer Instrumentalisierung des Protests.
Für die Grünen war es ein großes Glück. Seit jeher hat man in Kreuzberg ein Faible fürs Kontra, für Subkulturen und Minderheiten aller Art. Endlich wieder urgrüne Politik: gleiche Rechte für alle, Grenzen auf. Die Partei wird zum engsten Verbündeten des Camps, eine Bezirksabgeordnete übernachtet monatelang mit in den Zelten, Claudia Roth und Hans-Christian Ströbele schauen regelmäßig vorbei. „Friedrichshain-Kreuzberg“, sagt Ströbele, „zeigt, dass es auch anders geht als Law and Order.“
Kreuzberg vs. Rest der Welt
Und es ging ja auch anders. Als Flüchtlinge vorm Brandenburger Tor hungerstreikten, verbot das dortige Bezirksamt Zelte und Schutz vor Regen. In München ließ die Stadt ihr Flüchtlingslager räumen. Auch in Hamburg schickte der Senat die Polizei.
In Kreuzberg wurde geduldet. Dem Protestcamp stellte der Bezirk einen Sanitärcontainer, der besetzten Schule zahlte er Strom und Heizung. Und als Anwohner über die Vielzahl an Dealern im nahen Görlitzer Park klagten, fast alle Flüchtlinge, schlugen die Grünen einen Coffeeshop vor und die Cannabis-Legalisierung. Die lokale CDU schäumte. Die Grünen feixten. Ideologiekämpfe, fast wie früher.
Profilschärfung also. Andere sagen: Courage. Die Flüchtlinge fordern ein Ende von Residenzpflicht und Sammellagern, von Arbeitsverbot und Abschiebungen. Nichts davon kann der Bezirk einlösen. Am Ende leben vor allem Flüchtlinge aus Lampedusa im Camp, auf der Suche nach Arbeit. Auch hier kann der Bezirk weder Papiere noch Jobs bieten. Man hätte sich zurücklehnen können: nicht verantwortlich.
Kreuzberg aber ließ das Camp zu und schuf ein Exempel. Seht her: So leben Flüchtlinge in Deutschland, ohne Arbeit, ohne Perspektive. Journalisten interviewten die Asylstreiker, Politiker kamen vorbei. Eine Delegation aus dem Camp sprach im Innenausschuss des Bundestags.
Anwohner beschweren sich
Lange nicht wurde so über Flüchtlingspolitik diskutiert. Das kleine Kreuzberger Camp wurde zum Brennglas europäischen Asylversagens. Und doch ist es eine Überforderung. Immer mehr Flüchtlinge strömen auf den Platz und in die besetzte Schule. Es kommt zu Streit, Messerstechereien. Anwohner klagen über Gewalt, über Lärm und Unrat. Die Tafel stellt ihre Lebensmittelspenden ein. Im Camp wird jetzt nicht nur gefroren, sondern auch gehungert. Und im Bezirksamt wächst die Angst: Was, wenn einer der Flüchtlinge die Nacht nicht überlebt?
Die Hoffnungen, hochgehalten von den Grünen, sie zerbrechen. „Schönreden und Tatenlosigkeit“, wirft der lokale CDU-Chef Kurt Wansner der Partei bis heute vor. Dass Herrmann wochenlang für die Flüchtlinge nach einem Winterquartier suchte, im Camp-Plenum für den Umzug warb, erwähnt er nicht. Dann gelingt das lange Undenkbare: Auch CDU-Sozialsenator Mario Czaja sucht mit nach einem Haus, sagt 136.000 Euro an Hilfe zu. Am Ende stellt die katholische Caritas eine Unterkunft für 80 Flüchtlinge, ein früheres Seniorenheim. Nicht möglich ohne Herrmanns Beharren.
Doch der Umzug steht von Anfang an auf fragilen Füßen. Denn im Camp gibt es neben den Lampedusa-Gestrandeten noch eine zweite Gruppe. Politisch engagierte Flüchtlinge, einige Urbesetzer des Platzes, rund 20 Personen. Man gehe nicht für ein warmes Bett, sagen die von Beginn an, sondern erst, wenn alle Forderungen erfüllt sind. Herrmann diskutiert auch mit ihnen. Der Protest solle ja weitergehen, aber nicht in der Kälte. Die Flüchtlinge halten dagegen: Man werde jetzt nicht in der Unsichtbarkeit verschwinden. Irgendwann gibt Herrmann auf.
Immer neue Flüchtlinge
Ab jetzt ist klar, sie muss es sich mit einer Seite verscherzen. Lässt sie die Flüchtlinge weiter frieren, gibt es Ärger. Räumt sie die Widerständigen vom Platz, gibt es Ärger. Herrmann wählte die letzte Variante. Würden die Zelte nicht verschwinden, sagt die Bürgermeisterin, kämen immer neue Flüchtlinge auf den Platz. „Ich kann die Not verstehen. Aber mehr freie Häuser haben wir nicht.“
Am Sonntag ziehen die 80 Flüchtlinge um. Zwanzig bleiben im Camp. Dass ausgerechnet die Grünen die Polizei schicken, ist für die Flüchtlinge und ihre Unterstützer aus der linken Szene die maximale Provokation. Sie werfen der Bürgermeisterin die Spaltung der Bewegung vor.
Ein „tolles Eigentor“ habe Herrmann sich geschossen, sagt ein älterer Aktivist. „Jetzt hat sie ihren Ruf weg.“ Auch die CDU schimpft wieder, diesmal in Mitte, dem neuen Herbergsbezirks der Flüchtlinge: Jetzt werde das „entstandene Desaster“ zu ihnen „abgeschoben“. Ferner war die Erfüllung der Forderungen der Flüchtlinge selten. Wie über Residenzpflicht reden, über Dublin II, wenn schon ein Umzug von 80 Flüchtlingen um ein paar U-Bahn-Stationen zu viel ist?
Senator Henkel stellt Ultimatum
Herrmann sitzt am Dienstag in ihrem Rathaus, das Bezirksamt tagt. Alltag. Sie nimmt jetzt etwas Druck raus. Die Zelte sollen weiter weg, aber man führe erst mal Gespräche. Wenig später fährt Senator Henkel den Druck wieder hoch: Bis 16. Dezember müsse das Camp geräumt sein, sonst griffen „bezirksaufsichtsrechtliche Maßnahmen“.
Herrmann hatte überlegt, ob sie anders hätte handeln können. Nein, sagt sie. „Der Protest ist berechtigt, aber dafür dürfen Menschen nicht frieren und hungern.“ Sie glaubt weiter an den Kreuzberger Zusammenhalt, lächelt Anfeindungen weg. Die Polizei, heißt es aus dem Bezirk, werde die nächsten Tage nicht anrücken. Herrmann genehmigt das Infozelt als Symbol auf dem Oranienplatz, unbefristet. Eine Atempause. Es ist fast wie vorher. Bis zum Tag, an dem die Zelte wieder abgebaut werden sollen.
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