Flüchtlings-Protestcamp in Dortmund: Das Super-Wunderland
In Dortmund protestieren syrische Flüchtlinge für eine schnellere Bearbeitung ihrer Asylanträge. Deutschland, dachten sie einst, sei gerecht.
In diesem einen von tausend alternativen Universen hockt der Medizinstudent im Schneidersitz auf einer blauen Luftmatratze, die klamm davon geworden ist, dass sie seit mehr als 50 Nächten im Freien liegt. Hin und wieder gönnt er sich eine Zigarette, fünfmal täglich wäscht er Gesicht und Hände vor dem Beten in einem Eimer mit Wasser. Meistens jedoch starrt er auf den Bildschirm seines Smartphones, saugt die Bilder auf, die er da sieht.
Er zeigt das Foto eines friedlich lächelnden Senioren mit spärlichem weißen Haar und weißem Bart. Typ Weihnachtsmann. Er sei der Schwiegervater seiner Schwester, erzählt Bani, und wischt auf dem Display ein Bild weiter: Man sieht das Konterfei des Mannes, nach einem Angriff des Islamischen Staates, übel zugerichtet, blutüberströmt, mit zerfetzten Klamotten, und wer weiß, was noch alles zerfetzt wurde. Wisch, der lächelnde Weihnachtsmann ist zurück, wisch, Opa liegt in seiner eigenen Blutlache. Bani sieht zur Seite.
Sieht junge Männer seines Alters, eingemummelt in Schlafsäcke, den manche bis über den Scheitel gezogen haben. Mal lugt ein Knöchel hervor, mal tiefe schwarze Augen, die verbissen an die rote Decke starren, als wollten sie ein Loch hineinbrennen.
Ein kleiner toter Junge
Seit dem 9. Juni demonstrieren etwa hundert syrische Flüchtlinge in einem Protestcamp, zunächst vor der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) im Dortmunder Westen, jetzt gegenüber dem Hauptbahnhof in der Innenstadt. Sie fordern eine schnellere Bearbeitung ihrer Asylanträge. Drei Wochen, hieß es anfangs, sollten sie auf ihre Anhörung warten, mittlerweile sind es sechs Monate oder ein ganzes Jahr. Erst mit Aufenthaltstitel haben sie die Chance, ihre Familien nachzuholen oder zu arbeiten.
Nur auf Facebook kann sich Bani über seine Familie und sein Dorf informieren. Da habe er auch die Bilder seiner zerstörten Straße gesehen, erzählt er, die Nachbarhäuser, die Bleibe seiner Schwester, von der nur noch ein Teil der Außenfassade steht. Wisch, ein kleiner Junge tot. Wisch, ein Video, das zeigt, wie mehrere Männer seine blutende Leiche aus Trümmern zerren. „Der Cousin meiner Nichte“, sagt Bani. Wisch, Trümmer, wisch, Leichen. „Immer Angst, keine Luft“, sagt Bani auf Deutsch, kratzt mit einer Gabel in seinem Sahneschokobecher, obwohl der längst leer ist.
Bald werden die Syrer mit ihrem Protest nach Berlin umziehen. Sie wollen ihm so mehr Nachdruck verleihen. Vor knapp drei Jahren hatte sich am Oranienplatz schon einmal ein Protestcamp von Asylsuchenden formiert. Die Demonstranten wollten die Politik und Bürger für ihr Anliegen – bedingungslose Freiheit und Bleiberecht für alle – gewinnen. Einigen ging das nicht weit genug. Sie zogen vom Berliner Camp aus nach München und traten dort in einen Hungerstreik. Ihre Forderung: sofortige Anerkennung ihrer Asylanträge. Mehr als eine Woche hielten die 50 Flüchtlinge durch und drohten schließlich mit Selbstmord. Die Polizei löste das Camp gewaltsam auf.
In Berlin besetzten Flüchtlinge zudem eine Schule, letztlich räumten die Asylsuchenden 2014 aber sowohl den Oranienplatz als auch die Schule. Die schnellere Bearbeitung ihres Asylantrags oder gar eine Anerkennung kam nur für sehr wenige heraus. Drastische Wege wollen die Dortmunder Syrer nicht gehen, betonen sie.
Empfohlener externer Inhalt
Transparente und Plakate wellen sich im Wind: „Helfen Sie uns, unsere Familien zu retten“ und „Wir wollen hier arbeiten und lernen“ steht darauf. Große rote Plastikplanen sind mit weißen Abspannseilen an Buchen festgezurrt worden. Sie sollen die Demonstranten vor Hitze und Regen schützen. Weil die Leinen das Lager kreuz und quer durchschneiden, gehen seine Bewohner immer ein bisschen gebückt hindurch.
Einige Männer spielen Karten, andere Schach, manche hören Musik. Versuchen irgendwie, den Tag zu überstehen. Und den danach. Zwei kleine Auseinandersetzungen habe es gegeben, sagt Bani, mehr nicht. Obwohl die Syrer seit mehr als einem Monat aufeinanderhocken, keine Privatsphäre haben. Gelegentlich spielen sie Fußball, sogar mit Polizisten, die das Lager 24 Stunden täglich bewachen. Ein Dixi-Klo für 85 Euro pro Woche steht neben dem Camp bereit, über Twitter wurde es von Unterstützern organisiert, finanziert wird es von Spenden wie fast alles andere.
„Wie viele Stories?“
Wenn die Presse kommt, rufen die Männer nach Fadi, ihrem Sprecher. Meistens telefoniert er, bekommt SMS oder WhatsApp-Nachrichten. Weil es ihm vergleichsweise gut geht, möchte er, dass über die anderen geschrieben wird. „Wie viele braucht ihr?“, fragt er auf Englisch. „Wie viele Stories?“ Dann hat er schnell Adnan zur Hand. Seine Frau und die gemeinsamen Kinder zwischen drei und sechs Jahren warten in Idlib, einer Stadt im Nordwesten Syriens. Sie blieben zurück, weil Adnan sie auf einem sicheren Weg nachholen will.
Adnan ist Arzt, Kardiologe. Er musste in dem europäischen Land, in dem er zuerst ankam, den Fingerabdruck abgeben. In Ungarn wurde er gewaltsam dazu gezwungen, voraussichtlich muss er dorthin zurück. Chancen, seine Kinder aus dem Krieg zu holen, habe er so nicht mehr, übersetzt Fadi. In Ungarn gibt es so etwas wie Familienzusammenführung faktisch nicht.
„Jeden Tag sehe ich Männer wie ihn, starke Männer, die zusammenbrechen und die sagen: ‚Wenn es in Deutschland keine Chance gibt, gehe ich zurück, um mit meiner Familie zu sterben‘“, sagt Fadi, und er schluckt, weil er gestern erst einen Freund abhalten musste, sich in der Nähe einer Kirche zu erhängen. Die anfänglichen Hoffnungen sind einer allgemeinen Ernüchterung gewichen: Shems, der „Putzer“, räumt längst nicht mehr so viel auf wie am Anfang, und der Künstler malt düsterere Bilder als zu Beginn.
Gesehen werden
Die Geflüchteten am Berliner Oranienplatz hatten 2013 weitreichende Pläne, wollten Betroffene in ganz Europa mobilisieren. Gesehen werden, weil sie glaubten, dass weder die Regierung noch die Bevölkerung von ihren Problemen weiß. Teilweise mag ihnen das gelungen sein. Die Asylgesetze haben sich jedoch nicht verbessert. Protestierende Asylbewerber würden außerdem nicht bevorzugt, heißt es seitens des BAMF.
Deutschland war auch für Fadi und seine Männer mal so etwas wie eine Mischung aus Narnia und Hogwarts. Das Superwunderland. Im Herzen Europas gehe es gerecht zu, dachten sie. Das haben sie gelesen, sagen sie. Sie hätten sich informiert. Auch sie dachten, sie müssten sich vor allem bemerkbar machen. Als das vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht geklappt hat, ging es weiter in die Innenstadt und jetzt eben nach Berlin.
Doch bringen solche Protestcamps etwas? Immerhin bergen sie die Gelegenheit, mit Politikern zu sprechen. Die Notwendigkeit einer Rechtfertigung. Immer wieder versichern Politiker ihnen, sie seien im Recht, faktisch ändert sich für die Syrer jedoch nichts.
„Die sagen immer so einen langen Satz“, sagt Bani. „Mit einem großen Abstand zwischen ‚Wir‘ und ‚helfen‘“. Dann konzentriert er sich, um die vielen deutschen Wörter aneinanderzureihen: „Wir versprechen, dass wir versuchen werden, alles zu tun, um Ihnen zu helfen.“ Er holt erst mal Luft.
„Das ist die deutsche Bürokratie, in der Menschlichkeit verloren geht“, sagt Basti, Vogel-Tattoo auf dem Unterarm. Er gehört zu den linken Aktivisten, die jeden Tag ins Camp kommen. Sie wollen Solidarität zeigen, den Geflüchteten beim Übersetzen helfen, und manchmal, wenn ein paar Nazis am Camp vorbeispazieren, die sie erkennen, geben sie der Polizei Bescheid.
Die 90er Jahre
Basti erzählt dann was über die Asylrechtsverschärfung vor rund zwei Jahrzehnten, die 90er Jahre, in denen Flüchtlingsheime in Hoyerswerda und Lichtenhagen gebrannt haben, doch Bani hört. wenn überhaupt, nur beiläufig zu. Eigentlich ist ja auch egal, warum er in dieser Lage ist, jetzt sitzt er jedenfalls hier in Dortmund als einzige Hoffnung für die Eltern und acht der elf Geschwister, die noch in Syrien sind.
Das Camp, der Protest, sie geben ihm das Gefühl, aktiv etwas zu tun, statt nur zu warten. Basti deutet mit der Zigarette auf Bani, dann auf das Camp und sagt: „Irgendwann müsst ihr euch etwas anderes überlegen.“
Vielleicht, weil er weiß, wie es den Flüchtlingen am Oranienplatz und in München ergangen ist. Nach anderthalb Jahren des Protestes, der viel mediale Aufmerksamkeit und solidarische Unterstützung brachte, waren sie schnell aus der Öffentlichkeit verschwunden – ohne dass ihre Forderungen eingelöst wurden. Auch jetzt stehen die Chancen schlecht. Im Moment haben Asylanträge aus Osteuropa Vorrang, weil die Menschen im Gegensatz zu den Syrern rasch abgeschoben werden können.
Mittlerweile ist es spät geworden. Ein paar Isomatten werden gen Mekka ausgerichtet. Oder besser da, wo noch Platz ist. Die meisten beten ohnehin für sich oder gehen in die Moschee, wo sie auch duschen dürfen und für sie gekocht wird. „Die Klischee-Araber“ wolle er nun herausholen, sagt Jonas und schleppt eine Wasserpfeife an. Lange wandert der Shisha-Schlauch herum; wer ihn bekommt, klopft seinem Vorgänger als Dankeschön sanft auf den Handrücken.
Bani bereitet unterdessen das Nachtlager für seine Gäste, schüttelt Luftmatratzen und Schlafsäcke aus, legt ein Gartenmöbelpolster als Kissen dazu. Auch um vier Uhr nachts wird es nicht ganz ruhig im Camp, Musik dudelt über die Schlafsäcke hinweg, und manche diskutieren noch immer. Vom vielen Reden und Rauchen ist man irgendwie erschöpft und schläft rasch ein.
Am nächsten Tag geht das Debattieren weiter. Die Organisatoren des Camps – Bani, Medizinstudent, Fadi, IT-Spezialist, und Sakher, Politikwissenschaftler – werden nicht aufgeben. Zwar sind sie realistischer, was ihre Chancen betrifft, aber sie planen, wohl auch, um etwas zu unternehmen, was ihre Situation verbessern könnte. Vielleicht auch, um mit ihren Sorgen nicht allein zu sein. In tausend alternativen Universen hätten sie die Wahl – in diesem einen Universum haben sie diese Wahl nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht