Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt: Dem Widerstand zum Trotz
Im Burgenlandkreis gab es hässliche Anti-Asyl-Proteste. Landrat Götz Ulrich hält dagegen. Er ist sicher: Sein Kreis braucht Zuwanderer.
El Mafouchi fädelt mit der Kreisstadt Naumburg eine Partnerschaft ein. Am Vortag hat der dortige Oberbürgermeister den Landrat des Burgenlandkreises kurzerhand als Reiseführer für Memleben eingespannt, das vor tausend Jahren Europas Zentrum war – zumindest wenn Kaiser Otto I. in seiner Lieblingspfalz weilte.
Von der Herrlichkeit sind nur noch Reste erhalten, der Gast aber ist vom Genius Loci angetan und lauscht Ulrichs Ausführungen. Otto, 962 in Rom zum ersten römisch-deutschen Kaiser gekrönt, herrschte von Memleben aus über sein Reich, ließ Schenkungen beurkunden, und zu Pfingsten 973 ereilte ihn hier auch der Tod. Der Leichnam wurde in Magdeburg beigesetzt. „Das Herz aber wurde hier bestattet.“
Ulrich ist auf einen Platz getreten, erzählt, dass im nächsten Jahr endlich eine Ausstellung in Memleben an die Ottonen erinnern wird. Sein Blick geht auf den Boden, wo der Grundriss einer gewaltigen Kirche hervortritt. Hier könnte das Herz begraben sein.
Doppeltes Personal für Behörden
Doch Götz Ulrich taugt nicht für Pathos. In der gesteppten Jacke, weißes Hemd darunter, und – obwohl noch keine fünfzig – mit silbrigem Haar, wirkt der CDU-Mann ein bisschen ungelenk neben dem eleganten Gast mit der kecken Fedora auf dem Haupt. El Mafouchi hat ein freundliches Gesicht. Les Ulis ist gerade einmal vierzig Jahre alt. Die Retortenstadt kann bei der historischen Fülle nicht mithalten. Aber vielleicht ist El Mafouchi ja ein Bote aus der Zukunft.
Götz Ulrich, Landrat
Immerhin haben acht der 34 Stadträte von Les Ulis das, was man in Deutschland „Migrationshintergrund“ nennt. Unter seinen 54 Kreisräten findet Ulrich im Kreistag keinen einzigen, dafür drei NPD-Kader, unter ihnen Steffen Thiel, der 2015 in Tröglitz die „Spaziergänge“ gegen die Flüchtlingsunterkunft angeführt hatte, die bald darauf in Flammen stand. Das Kreistagsrund komplettiert zudem André Poggenburg, AfD-Fürst von Sachsen-Anhalt und treuester Anhänger des Blut-und-Boden-Predigers Björn Höcke.
Rund 3.700 Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und Geduldete leben im Kreis, zumindest ein Teil von ihnen dürfte sesshaft werden. Doch wird es jemals einen Kreisrat mit eritreischen, syrischen oder libyschen Wurzeln geben? An Götz Ulrich soll es nicht scheitern. Der Jurist krempelt gerade seine Kreisverwaltung um. Sein Ziel: schnelle, erfolgreiche Integration.
In der „Integrations- und Ausländerbehörde“ ließ er das Personal mehr als verdoppeln. Und in Naumburg entsteht eine „Migrationsagentur“. Flüchtlinge und Migranten sollen in dem Landkreis mit seinen 184.000 Einwohnern nicht nur ein Bett und etwas Geld bekommen, sondern eine Zukunft.
Wenn Flüchtlinge einen Deutschkurs oder ein Praktikum suchen, sollen sie nicht mehr über Amtsflure irren. Die Devise: „Alles aus einer Hand“. Es klingt nach Servicecenter, dabei ist es die Fortführung der „Willkommenskultur“ mit bürokratischen Mitteln.
Götz Ulrich, der Mann, der als Fünfjähriger, wenn andere Indianer oder Kosmonaut werden wollten, den Wunsch äußerte, Bürgermeister zu werden, der im Posaunenchor Trompete spielt, der kreuzbrave Landrat, erweist sich als Modernisierer und Vorreiter der Integration. Dabei gelten Landräte – als gewählte Beamte der Kreisverwaltung – im besten Falle als unauffällig.
400 Lehrstellen unbesetzt
2015 aber wurden zwei Landräte bundesweit bekannt: Der eine kam aus Landshut, stopfte Asylsuchende in einen Bus, fuhr nach Berlin und schimpfte vorm Kanzleramt über die Flüchtlingspolitik. Den anderen wünschten anonyme Absender unters Fallbeil – Götz Ulrich. Der hatte es nach dem Brandanschlag von Tröglitz gewagt, weiterhin für die Aufnahme von Flüchtlingen zu werben. Monatelang standen Ulrich und seine Familie unter Polizeischutz.
Ulrich, der „Standfeste“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobte, ist raus aus den Schlagzeilen. Die Drohbriefe lagern im Landeskriminalamt und die Zahl der Asylsuchenden geht seit Monaten zurück. Der 48-Jährige könnte sich wieder dem kommunalen Klein-Klein zuwenden. Am Vortag hat er in einer Sprechstunde mit Engelsgeduld die Beschwerden Unzufriedener angehört. Es ging um entzogene Führerscheine, nasse Sportplätze, Grünschnitt, dann auch wieder um Flüchtlinge.
Ein Rentner mokierte sich, dass für Flüchtlinge im ganzen Kreis Wohnungen angemietet werden, und schlug vor, alle Flüchtlinge in eine Platte in der Stadt Zeitz einzuweisen. „So wie früher.“ Billiger sei’s auch. „Ich möchte auch im ländlichen Raum Flüchtlinge unterbringen“, entgegnete Ulrich. Die Akzeptanz dort sei zwar viel schlechter, die Integration aber viel besser. „Die Flüchtlinge sind gezwungen, Deutsch zu reden.“ Der Alte war bald wieder weg.
Den Dom von Naumburg hat Noureddine El Mafouchi schon besichtigt. Auf dem Markt wird er von Ulrich verabschiedet. Die Städtepartnerschaft ist auf einem guten Weg. Kurz darauf steuert Ulrichs Chauffeur die Limousine zur Stadt hinaus. Eigentlich ist der ganze Burgenlandkreis ländlicher Raum. Während das Saaletal rings um Naumburg jede Menge Postkartenmotive bietet, dominiert weiter östlich Industrielandschaft. Tagebaue klaffen, ein Kohlekraftwerk glänzt am Horizont und von der Autobahn rollen Legionen von Schweinen direkt in eine schneeweiße Fleischfabrik.
AfD-Mann Poggenburg hat hier seine Hausmacht
Gleich hinter der Autobahn wohnt André Poggenburg, der den „deutschen Volkskörper“ rein halten will, wie er im Magdeburger Landtag betonte. Er hat Ulrich im Frühjahr angegriffen, weil der in Zeitz einen Gebetsraum für Muslime bereitstellen will. Der 42-Jährige, der im Dorf Stößen ein Herrenhaus bewohnt, hat im Kreis seine Hausmacht. Bei der letzten Landtagswahl holte die AfD in zwei der drei Wahlkreise hier mit 29,6 beziehungsweise 30,4 Prozent mehr Stimmen als die CDU, im dritten unterlag sie denkbar knapp.
Eine Migrationsagentur samt Neubau in Naumburg für 3,5 Millionen Euro ist da nicht ohne Risiko. Es wird eine Querschnittsbehörde entstehen, skizziert Ulrich. „Die Integrations- und Ausländerbehörde zieht ein, Mitarbeiter vom Jugendamt, vom Wirtschaftsamt und vom Bildungsamt kommen hinzu, zudem werden Jobcenter, die Agentur für Arbeit und der Kreissportbund vertreten sein.“
Etwa 70 Mitarbeiter sollen lange Wege, Leerlauf, aber auch Reibung verhindern und gewiss auch bei der Suche nach Gebetsräumen helfen. Ein Novum, nicht nur in Sachsen-Anhalt. Nur aus dem Kreis Osnabrück wisse er von einem ähnlichen Ansatz, sagt Ulrich.
Es klingt, als wollte der Fachmann für Verwaltungsrecht eine Integrationsmaschine installieren, die Flüchtlingen eine Chance eröffnet. Systematisch und nicht nur punktuell, wie etwa bei dem 24-Jährigen aus Guinea-Bissau, der als Küchenhilfe arbeitet und den Ulrich kurz aufsucht. „Wir sind gezwungen, beim Thema Integration Erfolge zu erzielen“, hatte er im Februar die Regionalzeitung wissen lassen.
Der Druck, der da anklingt, hat nicht nur mit der AfD zu tun. Das Land leert sich. „Wir verlieren 29 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung bis 2030“, sagt Ulrich und blickt hinaus. Kann sein Kreis auf Zuwanderung verzichten?
Seine Frau, eine Ärztin, gehe mit Flüchtlingen zu Einstellungsgesprächen bei einem Mittelständler, der Fertigteig produziert, erzählt Ulrich. Der Betrieb sucht dringend Arbeitskräfte, und nicht nur dieser. Im August waren im Kreis noch fast 400 Lehrstellen unbesetzt.
Auf dem Anfeindungshöhepunkt halfen Choräle
Was aber, wenn gar nicht mehr so viele Flüchtlinge ankommen? Ulrich winkt ab. Es gibt im Burgenlandkreis 5.600 EU-Migranten, allein 3.500 aus Polen, viele von ihnen arbeiten in der Fleischfabrik, viele wollen ihre Familien nachholen. Auch die werden über die Migrationsagentur dankbar sein.
In Döschwitz zieht das Weingut Schulze vorbei. Obwohl erst 1999 gegründet, hat es für seine Weine schon reichlich Medaillen eingeheimst. Seine Weinberge erstrecken sich bis nach Tröglitz. Hinein geht’s nach Kretzschau. „Hier gab’s auch wochenlang Demos“, erzählt Ulrich. Einmal wollten sich Asylgegner Zugang zur Kirche verschaffen, in der zur selben Stunde ein Friedensgebet stattfand. Ein Hauch von Bürgerkrieg.
Tröglitz, Kretzschau – es war der Höhepunkt der Proteste gegen „Asylschmarotzer“. Ulrich trat im Wochentakt auf Gemeindeversammlungen auf. „Wenn ich da lebend rauskam, war es gut“, erinnert er sich. „Da ging’s mir psychisch am schwierigsten.“ Manchmal halfen nur Choräle, rein ins Auto und Kopfhörer auf. „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt“ – ein Lied Paul Gerhards, in dem die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges nachklingen.
Ulrich konnte seine Seelenlage damals gut verbergen. Auf Markus Nierth, den ehemaligen Bürgermeister von Tröglitz, wirkte der Landrat in den Versammlungen souverän, sachlich und ruhig. So schreibt er es in dem Buch „Brandgefährlich“, in dem er seinen Rücktritt verarbeitet. Maßgeblicher Akteur: Götz Ulrich.
„Sein Herz ist stärker geworden“
Als der sonntägliche NPD-„Spaziergang“ vor Nierths Haus enden sollte, um dem Bürgermeister „Volkes Wille“ zu geigen, eskalierte die Lage. Nierth forderte vom Landrat, er solle den Aufmarsch zumindest umleiten, und setzte ein Ultimatum. Fassungslos darüber, dass sich Ulrich dazu nicht in der Lage sah, warf Nierth hin.
„Ich bin ihm sicher noch etwas unheimlich“, sagt Nierth am Telefon und lacht. Ein ehrenamtlicher Bürgermeister, der einen Landrat öffentlich unter Druck setzt – das dürfte Ulrichs geordnete Welt erschüttert haben. Ulrich ist ein anderer geworden, sagt Nierth, „mutiger“. Wo sonst gibt es einen Landrat, der sich so klar positioniert?
Als die AfD in Zeitz unter der Losung „Keine Migrationsexperimente mit unseren Kindern“ zu einer Kundgebung aufrief, trat Ulrich bei der Gegendemo auf, organisiert von der Linkspartei. Das dürfte nicht allen in der CDU gefallen haben. „Er ist über sich hinausgewachsen“, bekräftigt Nierth, dem man in jedem Satz den Prediger anmerkt, der er einmal war, „Sein Herz ist stärker geworden.“ Götz Ulrich wird es noch brauchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen