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Flüchtlinge aus Container befreitMenschenhandel an der Ostsee

Zwölf Westafrikaner*innen, darunter zwei Säuglinge, wurden im Hafen von Lübeck-Travemünde in einem Container gefunden.

Wie viele Tage die Geflüchteten in diesem Container verbringen mussten, ist noch unklar Foto: dpa

HAMBURG taz | Heike Behrens ist entsetzt: „Besonders Familien mit Kindern würden sich nicht leichtfertig auf so eine gefährliche Flucht im Container machen, wenn es andere Möglichkeiten für sie geben würde“, ist die Aktivistin des Lübecker Flüchtlingsforums überzeugt. „Das ist der Skandal.“

Zwölf Menschen aus Westafrika sind am Sonntag in einem Container im Hafen von Lübeck-Travemünde gefunden worden. „Die Geflüchteten müssen umgehend in das Asylverfahren aufgenommen werden“, fordert Martin Link vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. Ein Bleiberecht für die zwölf Personen hält er für angemessen: „Sie sind vermutlich Opfer von skrupellosen Menschenhändlern geworden.“

Am Sonntag hatte ein Hafenarbeiter auf den Gleisen des Skandinavienkais einen schwarzen Menschen angetroffen. Dieser wies darauf hin, dass in einem Container weitere Menschen eingepfercht seien. Bundespolizei und Hilfsdienste befreiten daraufhin sechs Erwachsene und sechs Kinder, darunter zwei Säuglinge im Alter von vier und zwei Monaten, aus der in der prallen Sonne stehenden Stahlbox.

Den Flüchtlingen sei es „den Umständen entsprechend recht gut“ gegangen, sagte Gerhard Stelke, der Sprecher der Bundespolizeiinspektion in Kiel. Sie seien lediglich erschöpft und übermüdet gewesen.

Eine ärztliche Untersuchung in einem Lübecker Krankenhaus habe ergeben, dass es den zwölf Betroffenen gesundheitlich gut gehe. Daraufhin wurden sie, weil sie keine Papiere bei sich hatten, von der Bundespolizei erkennungsdienstlich behandelt und in die Erstaufnahme in Neumünster gebracht. „Sie sollen sich erst mal ausschlafen“, so Stelke am Montagmittag, „dann werden wir sie weiter befragen.“ Anschließend würden die Geflüchteten in die Zuständigkeit der Ausländerbehörde übergeben.

Erstaufnahmen in Schleswig-Holstein

Die Flüchtlinge aus Travemünde sind zurzeit in der Erstaufnahme in Neumünster.

Zwei weitere Erstaufnahmen betreibt das Land: in Rendsburg und Boostedt.

3.568 Flüchtlinge könnten dort insgesamt aufgenommen werden. Laut dem schleswig-holsteinischen Innenministerium sind derzeit 1.784 Flüchtlinge untergebracht – exakt 50 Prozent Belegung.

Nach Stelkes Aussage hätten zwei Flüchtlinge angegeben, aus Nigeria zu stammen, die anderen aus Sierra Leone. Wie lange die Flüchtlinge schon in dem Container waren, sei noch unbekannt. Allerdings sei nach ersten Erkenntnissen davon auszugehen, dass die Geflüchteten „längere Zeit“ in dem Container verbracht hätten.

Der Güterzug sei Sonnabend früh in Italien gestartet, der fragliche Container sei „für Skandinavien“ bestimmt gewesen. Genauere Angaben zu Abfahrts- und Zielort, Zeiten, Spedition und Frachtpapieren wollte Stelke aus ermittlungstaktischen Gründen nicht machen. Auch seien die Familienverhältnisse unklar. Die Ermittlungen der nächsten Tage müssten abgewartet werden, so der Polizeisprecher.

Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau (SPD) ist bestürzt, dass der Hafen der Hansestadt zur Drehscheibe von Menschenhändlern werden könnte: „Den Schleusern muss dringend das Handwerk gelegt werden“, so Lindenau. Dafür sei die „jetzt schon enge Kooperation“ zwischen Hafengesellschaft, Zoll und Bundespolizei notwendig. „Effektive Kontrollen finden ja schon statt, sonst wäre dieser schreckliche Fall womöglich unentdeckt geblieben.“

Katja Mentz von der linksgrünen Abspaltung GAL will zumindest eine Kontrolle der Politik im Rathaus erreichen: „Wir werden diesen skandalösen Vorfall parlamentarisch thematisieren“, kündigt sie an. Auch Michelle Akyurt, die grüne Fraktionschefin in der Lübecker Bürgerschaft, spricht sich für ein Bleiberecht für die zwölf Geflüchteten aus. Es sei denn, sie wollten wirklich zu Verwandten nach Skandinavien: „Dann sollten wir ihnen das aus humanitären Gründen ermöglichen“, sagt die Rechtsanwältin, die selbst auf Ausländerrecht spezialisiert ist.

„Nichts Vergleichbares“ in Schleswig-Holstein ist dem Flüchtlingsbeauftragten des Landes, Stefan Schmidt, bekannt. „So etwas gab es hier noch nicht“, sagt der frühere Kapitän des Flüchtlingshilfsschiffs „Cap Anamur“, nachdem er am Montag den Tatort auf dem Travemünder Skandinavienkai besichtigt hatte.

Wegen seiner humanitären Hilfe war ihm selbst in Italien jahrelang der Prozess gemacht worden: „Wir in Europa schützen Grenzen, nicht Menschen“, weiß er seitdem. Ebenso wie Link vom Flüchtlingsrat fordert auch Schmidt für die zwölf Geflüchteten ein Bleiberecht. „Wir werden den Fall sehr aufmerksam verfolgen“, kündigt der Flüchtlingsbeauftragte an.

„Die politisch Verantwortlichen machen ganz bewusst die Flucht nach Europa so gefährlich“, ist auch Behrens vom Flüchtlingsforum überzeugt. „Nur offene Grenzen und Bleiberecht für alle kann dazu führen, dass Menschen nicht mehr auf diese Art fliehen müssen.“

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1 Kommentar

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  • Zitat: „Wir in Europa schützen Grenzen, nicht Menschen“.

     

    Stefan Schmidt, irrt sich. Es gibt (noch) kein „wir“ in der Flüchtlingsfrage, das Grenzen an Stelle von Menschen schützen könnte. So ein „Wir“ muss erst noch konstruiert werden.

     

    Bisher gibt es Leute, die in bestimmten Grenzen herrschen wollen. Außerdem gibt es Leute, die sich von den Herrschenden beschützen lassen möchten. Und es gibt Leute, die lieber schutzbedürftige Menschen schützen, als irgendwelche künstlich gezogenen Grenzen. Jedenfalls so lange, wie sie anschließend nicht persönlich verantwortlich gemacht werden für die (vermeintlich oder tatsächlich) Schutzbedürftigen.

     

    Ach ja, und dann gibt es noch Leute, die in den Flüchtenden Individuen sehen. Leute, die sich nicht „parlamentarisch“ oder sonst irgendwie abstrakt mit der „Flüchtlingsfrage“ befassen, sondern sich auf konkrete „Projekte“ mit konkreten Menschen einlassen. Aber die sind derzeit eine leicht zu vernachlässigende Minderheit. Vermutlich ist die Sache mit der Integration einfach zu kompliziert, wenn man sie ernsthaft angeht.

     

    Im Übrigen irrt sich offenbar auch Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau (SPD), wenn er meint: „Effektive Kontrollen finden ja schon statt, sonst wäre dieser schreckliche Fall womöglich unentdeckt geblieben.“ Es waren Hafenarbeiter, nicht etwa Zollbeamte oder Bundespolizisten, die am Sonntag zufällig „einen schwarzen Menschen angetroffen“ haben. Und es war dieser „schwarze Mensch[]“, der die eigentlich Verantwortlichen auf den Container hingewiesen hat. Wäre dieser „schwarze Mensch[]“ nicht gewesen, wären die zwölf Personen in dem Container vielleicht auch erstickt.

     

    Ach ja, eins noch: Heike Behrens macht es sich zu leicht. Ohne Zustimmung des „Souveräns“ können nur in Diktaturen „offene Grenzen und Bleiberecht für alle“ hergestellt wreden. Wie es sich in einer Diktatur (der Wohlmeinenden) lebt, erinnere ich allerdings noch gut: Auch aus einer solchen Diktatur wollten Menschen fliehen. Notfalls in Stahlcontainern.