Flüchtlinge am Hamburger Hauptbahnhof: Das organisierte Chaos
Täglich kommen 2.500 Flüchtlinge in die Hansestadt, die meisten wollen nach Schweden. Ehrenamtliche helfen, Behörden halten sich raus.
Auch Soliman trägt an diesem Abend eine der grellen Westen. „Das sind meine Leute“, sagt der 21-Jährige. Vor einem Jahr ist er selbst mit seiner Familie geflohen, aus Aleppo, vor dem syrischen Bürgerkrieg. „Ich war wie sie“, sagt er. Nun will er helfen. Er kann übersetzen: Sein Deutsch ist gut und, noch viel wichtiger, Soliman spricht arabisch.
Soliman fragt die Ankommenden nach ihrem Ziel, bringt sie zum richtigen Gleis – oder vermittelt ihnen Schlafplätze. „Ich sage ihnen auch, dass Hamburg eine schöne Stadt ist, in der man gut leben kann.“ Einige hätten sich dann schon entschieden zu bleiben, sagt er. Manchmal aber machten ihn die Gespräche mit den Geflüchteten auch ganz schön fertig.
Gerade hat Soliman sich mit Ali unterhalten. Der möchte seinen Nachnamen nicht nennen, aus Angst um seine Familie: Seine Mutter, seine Schwester und seine Frau wurden verhaftet, erzählt Ali, er selbst konnte aus Damaskus fliehen. Seinen neunjährigen Neffen Hussam hat er mitgenommen.
Ali zieht sein weißes Smartphone aus der Tasche seiner Winterjacke, zeigt Fotos: von zerstörten Häusern, angeschossenen Menschen, Blutlachen – und ein paar glückliche Familienbilder. „Das ist der Vater des Jungen“, sagt er. „Der ist tot.“ So geht das weiter: Er zeigt ein Bild und sagt „tot“. Sein Neffe steht mit großen Augen daneben und kaut auf einem bunt verzierten Donut. Pläne für die Zukunft haben die beiden nicht. „Wir wollen nur zusammenbleiben“, sagt Ali.
„Wir kriegen das inzwischen besser hin“
Soliman nimmt so eine Geschichte mit. Er sitzt da, hat die Augen geschlossen. „Es ist sehr hart“, sagt er. Dann rückt er sich die schmale Brille zurecht und rafft sich wieder auf. Ein neuer Zug aus München ist angekommen, Dutzende Menschen strömen zu dem improvisierten Infopunkt unter einer Treppe, nicht weit weg vom Reisezentrum des Bahnhofs.
An den Telefonzellen hängen Zettel, „Flüchtlingshilfe“ steht darauf, auf deutsch und in drei anderen Sprachen. Am Nachmittag haben Helfer draußen vor dem Bahnhof zwei große Zelte aufgebaut. Die wurden gespendet, genau wie das viele Essen, Windeln, Tampons, Babynahrung, Kleidung oder Medikamente.
Auf der Facebookseite „Antira HBF Support“ werden immer wieder lange Listen veröffentlicht mit Dingen, die die Helfer und die Hilfsbedürftigen dringend brauchen. Dass nicht auch noch das Lager, die Essensausgabe und die Erste-Hilfe-Station unter der Treppe aufgebaut sind, sondern nach draußen umgezogen, hat die Situation entzerrt.
„Wir kriegen das inzwischen besser hin“, sagt Pia Amerongen, eine von denen, die die Hilfe organisieren. Schon deshalb, weil inzwischen genügend Übersetzer dabei seien. „Vorher ging das mit Händen und Füßen.“ Seit dem vergangenen Wochenende sind Ehrenamtliche am Bahnhof im Einsatz. „Hier kann jeder helfen“, sagt Amerongen. „Man braucht nur starke Nerven.“ Ständig kommen neue Freiwillige dazu.
„Jetzt will ich endlich ankommen“
Manchmal geht die Hilfsbereitschaft der Leute aber daneben: Wenn abends Feiernde vorbeikämen und die Situation sähen, wollten viele helfen, sagt die Politikstudentin. „Die kaufen dann massenhaft Essen bei McDonald‘s.“ Viele der Tüten lagen unangetastet unter der Treppe. „Das mussten wir alles wegschmeißen“, sagt Amerongen, „weil da Schweinefleisch drin ist.“
In der Wandelhalle ist es laut. An den Seiten haben sich Flüchtlinge auf Isomatten, Decken und Taschen gesetzt. Einige versuchen zu schlafen. Jemand ruft in die Menge: „Schweden!“ Ein Typ mit blondem Bart und roter Mütze hält ein Schild mit dem Zielort in die Höhe, der nächste Zug in Richtung Lübeck geht in Kürze. Von dort gibt es eine Fähre nach Schweden.
Der 17-jährige Hassan, ein langer Schlacks mit Bartschatten über der Oberlippe, will da mit. Er ist mit seinem Vater aus Syrien geflohen, über die Türkei, Griechenland, Serbien, Mazedonien, Ungarn und Österreich. „Jetzt will ich endlich ankommen“, sagt er.
Die Gruppe setzt sich Richtung Gleis sechs in Bewegung. Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Trotzdem wird es eng. Hassan und sein Vater sind noch nicht da. Über Lautsprecher wird schon die Abfahrt des Zuges durchgesagt, als die beiden mit ihrem Gepäck in der Hand über den Bahnsteig rennen. Ein Helfer hält die Tür auf – geschafft. Der Zug fährt los. Ein Flüchtling kommt noch einmal ans Fenster und streicht sich mit den flachen Fingern unter dem Kinn in Richtung der Helfer. Das heißt „Danke“.
Der Deutschkurs beginnt
Elif Bittu grinst. „Schon wieder welche umsonst mitgeschickt“, sagt sie zufrieden. Ein Bahnsprecher bestätigt, dass Flüchtlinge, die ohne Ticket reisen, einen Ersatzfahrschein vom Schaffner erhalten. Das geht schon ein paar Tage so. Am Infostand herrscht trotzdem Verwirrung. Es hält sich das Gerücht, die Bahn hätte Flüchtlinge ohne Ticket zurückgeschickt. Die meisten Freiwilligen kaufen deshalb zur Sicherheit Gruppentickets.
Draußen ist es dunkel geworden. Ein Helfer hält ein „Place to Sleep“-Schild hoch. Ein paar Flüchtlinge stellen sich dazu, junge Männer, aber auch Familien mit kleinen Kindern. Sie sind erschöpft, brauchen eine Pause, bevor sie ihre Fahrt nach Skandinavien fortsetzen. Andere haben sich noch nicht entschieden, ob sie bleiben wollen. Hamburgs Innenbehörde hat die Erstaufnahme dichtgemacht – keine Plätze mehr. Auch die Flüchtlinge, die in Hamburg bleiben möchten, müssen am Bahnhof ausharren.
Heute Nacht können sie in der Al-Nour-Moschee unterkommen. 400 Schlafplätze gibt es da. Auch das Schauspielhaus oder das „Kollektive Zentrum“ im Münzviertel, Pfadfinderheime und Privatpersonen bieten für die Nacht einen Platz.
Die Helfer sind trotzdem unzufrieden. In einer Pressemitteilung haben sie die Stadt um Unterstützung gebeten, „um eine Katastrophe zu verhindern“. Die Behörden halten sich zurück. Dies sei im Interesse der Flüchtlinge, sagt der Sprecher des Hamburger Sozialsenators, Marcel Schweitzer. „Die Menschen meiden den Staat, weil sie Angst haben, registriert zu werden.“ Von Beamten hinter dem Infotisch würden sich die Flüchtlinge nicht helfen lassen, ist Schweitzer überzeugt. Deshalb helfe die Behörde durch Kontakte und Spenden.
Soliman hat genug für heute. Morgen früh um neun beginnt sein Deutschkurs. „In sechs oder sieben Monaten bin ich soweit“, sagt er. Dann möchte er studieren und Informatik-Ingenieur werden. Das wollte er schon in Syrien. Er tritt einen Schritt zur Seite, um eine Familie zum Infopunkt durchzulassen. Morgen will er wieder kommen: „Es gibt genug zu tun.“
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