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Flüchtende auf SamosHinter Stacheldraht

Die EU lässt ein gefängnisartiges Lager auf der griechischen Insel Samos errichten. Flüchtende fürchten, zu Gefangenen zu werden.

Das neu errichtete Flüchtlingslager auf Samos gleicht einem Hochsicherheitsgefängnis Foto: Alkis Konstantinidis/reuters

W ährend Sie diesen Text lesen, werden auf der griechischen Insel Samos Menschen in ein neues Lager für Asylsuchende gebracht. Viele von ihnen ­gegen ihren Willen. Dieses gefängnisähnliche Lager liegt sehr abgelegen an einem Ort namens Zervou, ist mit Stacheldraht umzäunt und einem modernen Überwachungssystem ausgestattet. Millionen Euro wurden für den Bau des Lagers ausgegeben.

All das, um Menschen festzuhalten, deren einziges Verbrechen darin besteht, in der Europäischen Union Schutz und Stabilität zu suchen. Menschen, die auf diese Weise stattdessen nur weiter erniedrigt und ausgegrenzt werden. Genau wie die massenweise Ablehnung von Asylanträgen wird dieses neue Lager so zum Symbol für die völlige Ablehnung von Geflüchteten und ihrem Recht, Asyl zu suchen. Seit Monaten schon haben unsere Pa­ti­en­t*in­nen auf Samos Angst davor, in dem neuen Lager eingesperrt zu werden.

Sie fühlen sich hilflos und völlig auf sich allein gestellt. Für Menschen, die Folter durchlebt haben, bedeuten die strengen Kontrollen im Lager nicht nur einen Verlust von Freiheit. Sie können die Menschen auch retraumatisieren. Die meisten unserer Pa­ti­en­t*in­nen haben Symptome von Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen.

Rund zwei Drittel der Patient*innen, die von April bis August zum ersten Mal in unsere Klinik für psychische Gesundheit kamen, brachten Selbstmordgedanken zum Ausdruck. 14 Prozent waren akut suizidgefährdet. Das sind schockierende Zahlen. Diese Menschen leiden unmittelbar unter der sich immer weiter verschärfenden europäischen Migrationspolitik. Als Psychologinnen erleben wir täglich mit, wie sich ihr psychischer und physischer Zustand immer weiter verschlechtert.

Bild: Evgenia Chorou/Ärzte ohne Grenzen
Betty Siafaka

ist Psychologin mit Spezialisierung auf kognitive Verhaltens­therapie und leitet das Team für psychosoziale Gesundheit von Ärzte ohne Grenzen auf Samos.

Die Eröffnung des neuen Lagers macht etwas mit der kollektiven Identität der Geflüchteten, mit ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Würde: Europa bricht diese Menschen. Was sollen wir einem jungen Mann sagen, der, obwohl er nie ein Verbrechen begangen hat, in einem gefängnisähnlichen Lager eingesperrt ist? Einer unserer Patienten ist ein 19-Jähriger aus Mali, der bereits seit zwei Jahren auf Samos festsitzt. Vor einigen Jahren hat er seine Heimat verlassen, weil er dort gefoltert wurde.

Bild: Evgenia Chorou/Ärzte ohne Grenzen
Eva Papaioannou

ist Psychologin und hat sich auf systemische Therapie spezialisiert.

Erst Geflüchteter – jetzt Gefangener

Bild: Evgenia Chorou/Ärzte ohne Grenzen
Eva Petraki

ist klinische Psychologin und arbeitet außerdem bei einer wissenschaftlichen Organisation, die sich auf die psychische Gesundheit von LGBTQIA-Personen spezialisiert hat.

Er kam nach Europa mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Sicherheit. Inzwischen ist er extrem verzweifelt und stellt seine Existenz in Frage. Die Angst vor dem neuen Lager hat in ihm bereits eine Reihe von ­psycho-emotionalen Reaktionen ausgelöst. Wie lange kann er sich noch vorstellen, all diesen Schmerz und diese Frustration zu ertragen? Als wir ihn fragen, was er sich wünscht, lautet seine Antwort: „Meine Freiheit. Bis jetzt war ich ein Geflüchteter, jetzt werde ich ein Gefangener sein.“

Die Ungewissheit, der mangelnde Schutz und die völlige Missachtung menschlichen Lebens werfen Fragen auf, auf die die griechischen und europäischen Behörden keine Antwort geben, und dies nicht erst seit gestern. Pa­ti­en­t*in­nen auf den griechischen Inseln berichten uns seit Jahren, wie sie unter der dauerhaften Belastung leiden. Sie ­leben unter schwersten Bedingungen.

Dazu gehören komplizierte Behördenvorgänge und Asylprozeduren, eine andauernde Unsicherheit, Gewalt, die Trennung von Angehörigen und Kinder, die nicht in die Schule gehen können sowie eine mangelnde Gesundheitsversorgung. Felicite (Name geändert) ist seit Februar 2021 Patientin in unserer psychiatrischen Klinik. Sie hat weibliche Genitalverstümmelung, eine Zwangsheirat im Alter von 14 Jahren und über viele Jahre extreme sexualisierte und körperliche Gewalt durch ihren 30 Jahre älteren Ehemann überlebt.

Schwere Traumata

Sie wurde Opfer von Menschenhändlern und befindet sich seit zwei Jahren auf Samos. Ihr Antrag auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus wurde bereits zweimal abgelehnt. Das bedeutet, dass sie keinen Zugang zu den grund­legenden Dienstleistungen im Lager hat, zum Beispiel zur Nahrungsmittelversorgung. Seit vier Monaten wartet sie nun auf eine neue Entscheidung ihres Asylantrags. „Werde ich verhungern?“ Diese Frage stellt sie sich mit gutem Grund.

Für Menschen, die einer derart gewalttätigen Migrationspolitik ausgesetzt sind, bedeutet die Eröffnung dieses neuen Lagers ein Ende: das Ende eines Sinns zu leben, das Ende ihrer Geduld, das Ende der rudimentären Freiheit, die sie hatten, das Ende jeder Möglichkeit, an Aktivitäten eines normalen Lebens teilzunehmen, wie zum Beispiel mit ihren Kindern am Strand oder auf dem Marktplatz spazieren zu gehen oder in dem Supermarkt in der Stadt einzukaufen.

Das neue Lager macht etwas mit der kollektiven Identität der Geflüchteten, mit ihrem Selbstwertgefühl, ihrer Würde

Wir schämen uns für Europa und die Werte, die es vorgibt zu haben, die für unsere Pa­ti­en­t*in­nen hier auf Samos aber nicht zu gelten scheinen. Wie einfach wäre es, diese Situation zu ändern und dem Leben von Hunderten Menschen, die in Europa internationalen Schutz suchen, einen neuen Sinn zu geben? Es bräuchte den politischen Willen und die Achtung der Menschenwürde. Europa und Griechenland müssten für menschenwürdige Alternativen zu den Lagern sorgen.

Sie müssten den Zugang zu einem fairen Asylverfahren ermöglichen und eine Gesundheitsversorgung sicherstellen, die auf die Bedürfnisse von Menschen, die vor Gewalt, Konflikten und Traumata fliehen, zugeschnitten ist. Dann könnten wir unseren Pa­ti­en­t*in­nen auch wirklich helfen. Jeden Tag vertrauen uns die Menschen hier ihre Geschichten an. Wir bewundern sie für ihre Widerstandsfähigkeit. Wir sind da, um ihnen einen sicheren Ort zu bieten.

Wir sind da, damit sie sich bei uns anlehnen und mit uns ihre Ängste über vergangenes und befürchtetes Leid teilen können. Aber solange die Politik, die dieses Leid verursacht hat, nicht aufhört, werden wir diesen Menschen nicht wirklich helfen können. Wir werden einfach hier bleiben und ihnen dabei helfen zu überleben. Nicht zu leben und zu heilen. Zu überleben, mehr nicht.

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3 Kommentare

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  • Da der Artikel leider nicht für eine Spende für Ärzte ohne Grenzen wirbt, möchte ich dies hier nachholen. Das faire Asylverfahren für Geflüchtete auf den Inseln hängt leider an dem unseeligen Türkei Deal den Frau Merkel eingefädelt hat. Danach nimmt die Türkei nur abgelehnte Geflüchtete aus den Lagern zurück wenn diese noch auf den Inseln sind, aber nicht vom griechischen Festland. Griechenland fürchtet also nicht ganz zu unrecht bei Räumung der aktuellen Lager allein im Regen zu stehen. Wir bräuchten nur eine direkte Flugverbindung von der Türkei nach Deutschland einrichten und alle Beteiligten (Geflüchtete,Griechenland und Türkei) wären zufrieden. Ob das innenpolitisch gut gehen würde, wenn ich auf 2015 zurückschaue, steht dann allerdings auf einem anderen Blatt.

    • @Šarru-kīnu:

      Danke für die Zusatzinfo. Ich wusste es nicht.

  • "Wir schämen uns für Europa und die Werte, die es vorgibt zu haben, die für unsere Pa­ti­en­t*in­nen hier auf Samos aber nicht zu gelten scheinen"

    Ihr braucht Euch nicht zu schämen. Vielmehr schäme ich mich, weil ich hier im Warmen sitze und diese menschenverachtenden Regierungen nicht zu verhindern wusste.

    Danke Euch, dass Ihr Euch so einsetzt. Ihr seid der letzte Funken Hoffnung.

    Europäische Werte. Traurig.