Flucht nach Europa: Träume der Piazza della Libertà

Im norditalienischen Triest kommen Tausende Flüchtende an, die auf der Balkanroute Gewalt erlebt haben. Immer mehr finden kein Obdach in Italien.

Eine Familie sitz auf einer Parkbank und schützt sich mit einer blauen Plane vor dem Regen

Eine Familie schützt sich auf der Piazza della Libertà vor dem Regen Foto: Adria Saido Zarco/imago

TRIEST taz | „In Griechenland brach die Polizei den Frauen und Kindern Arme und Beine. Ich sah Männer, die nackt zur türkischen Grenze zurückkehrten.“ Mohammed* spaziert zwischen hohen Bäumen, während er sich erinnert. „Meine Reise hat acht Monate gedauert. In der iranischen Wüste habe ich zehn Tage lang gehungert.“

Vor eineinhalb Monaten kam der 27-jährige Pakistaner in Campo Sacro nördlich von Triest an. Hier ist er in einem der Häuser des Pfadfinderheims „Alpe Adria“ untergebracht – so wie viele Asylsuchende, die hier und in Triest auf ihre Weiterreise in andere Teile Italiens warten.

In Pakistan sei Mohammed professioneller Kricketspieler gewesen. „Aber hier ist es ohne Dokumente schwierig, irgendetwas zu tun“, sagt er und begrüßt eine Gruppe von Jungen, die zwischen den Bäumen vor der Küche des Wohnheims Fußball spielen. Er habe sich dazu entschieden, in Italien zu bleiben. „Ich wünschte nur, es gäbe mehr Respekt vor den Menschen“, sagt er, bevor er zum Mittagessen ins Gebäude geht.

Seit Jahrhunderten ist Triest mit seinem bedeutenden Hafen Treffpunkt unterschiedlicher Kulturen. Heute ist die norditalienische Stadt Drehscheibe für Menschen geworden, die aus Ländern wie Afghanistan, Iran oder Irak über die Balkanroute nach Europa gelangen wollen. Sie nennen diese Route auch „the game“, denn wenn sie an der EU-Grenze abgewiesen werden, müssen sie zurückkehren und es erneut versuchen.

In Triest ist der Umgang mit Flüchtenden humaner

Von der Straße, die vom Hügel von Campo Sacro ins Zentrum von Triest führt, kann man das Meer sehen. An klaren Tagen ist die gegenüberliegende Küste Sloweniens zu erahnen – fast so, als gäbe es in diesem Europa keine Grenzen.

Doch die Menschen, die über die Balkanroute kommen, haben diese Grenzen allesamt zu spüren bekommen. Triest ist für viele die erste Stadt, in der sie nach der Gewalt und dem Missbrauch, die sie in Kroatien oder an der griechisch-türkischen Grenze erlitten haben, Hilfe und Gastfreundschaft erfahren.

Hilfestellung gibt auch Davide Pittioni, Mitarbeiter des Italienischen Solidaritätszentrums (ICS) in Triest. „Es gibt Menschen, die seit mehr als einem Monat auf der Straße leben und auf ein Bett warten. Diese Situation wurde der Präfektur und dem UNHCR bereits acht Mal gemeldet“, sagt Pittioni, während er das Tagesaufnahmezentrum, einen Steinwurf vom Bahnhof und der Piazza della Libertà entfernt, betritt.

Zwei Jahre lang war die Einrichtung geschlossen, weil sich die Praxis durchgesetzt hatte, Migranten an der slowenischen EU-Grenze abzuweisen und zurückzuschieben. Im Januar 2021 erklärte der Europäische Gerichtshof in Rom diese Praxis für rechtswidrig.

Ein Bett für drei Nächte, Dusche, Essen und Infos

So wurde die Einrichtung am 10. August wiedereröffnet. Seitdem bekommen die Menschen beim ICS wieder ein Bett für drei Nächte, eine Dusche, Mahlzeiten und rechtliche und soziale Informationen. „Wir versuchen, eine menschlichere Atmosphäre zu schaffen“, sagt Pittoni.

Laut dem letzten ICS-Bericht (2021) kamen im vergangenen Jahr 6.489 Menschen in Triest an. Die letzten vom ICS gesammelten Daten zeigen, dass sich im Sommer 2.000 und in den Monaten davor 1.500 Flüchtende in der Stadt aufhielten.

„Doch nicht alle Personen werden erfasst“, fügt Pittioni hinzu. „Jeden Tag kommen 50 bis 70 Menschen in Triest an, das sind 400 mehr als im letzten Jahr“, berichtet ICS-Präsident Gianfranco Schiavone. Seit einem Monat würden 150 Menschen auf der Straße schlafen, da sie auf den Beginn ihres Asylverfahrens warteten.

Das Innenministerium habe erklärt, dass es nicht genügend Plätze für alle gebe, so Schiavone. Er macht politisches Desinteresse für die Situation verantwortlich, aber auch politisch motivierte Angstmache vor Asylsuchenden in der Bevölkerung.

Auf der Piazza della Libertà ist die Sonne fast untergegangen, der Feierabendverkehr schiebt sich durch die Straßen mit ihren weißen, strengen Gebäuden. In einer langen Schlage warten Menschen auf ihr Abendessen – es gibt Brot und Hühnchen.

Angst und Streifschuss auf der Balkanroute

Auf einer Bank sitzt Hejar. „Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mitten im Wald mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden gelegen habe“, erzählt er. „Die kroatische Polizei hielt mich in der Nähe der slowenischen Grenze vielleicht zwei oder drei Stunden lang fest. Ich hatte große Angst.“

Der 35-jährige Kurde hat vor einem Monat sein Dorf in Bakur im Südosten der Türkei verlassen, wo er Verfolgung durch das Erdoğan-Regime fürchtete. „Die Polizisten sagten mir, dass ich gehen könne, aber nur wenige Meter von ihnen entfernt hörte ich einen Schuss und spürte einen Schmerz in meinem Gesicht. Eine Kugel streifte mich und brach mir die Nasenscheidewand“, sagt Hejar mit immer noch erstauntem Gesichtsausdruck. Solche Gewalt durch kroatische Grenzpolizisten bestätigen zahlreiche Berichte.

Der Mann lässt sich auf einer Bank nieder, seufzt tief und berührt die Augenbinde, die ihm einer der Freiwilligen angelegt hat. Da kommt Said aus einer kleinen Stadt in der Provinz Isfahan im Iran dazu.

„Mir fehlte nichts außer der Freiheit“, sagt Said über sich selbst und lächelt wehmütig. 2018 habe er sich den Protesten gegen die iranische Regierung angeschlossen. „Seitdem bin ich in Schwierigkeiten.“ Nach zwei Jahren in der Türkei seien seine Papiere abgelaufen, deshalb habe er beschlossen, zu seinem Onkel nach Europa zu gehen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal auf der Straße leben würde“, sagt Said.

Helfer angezeigt wegen „Beihilfe zu illegaler Einwanderung“

Auch Lorena Fornasir und ihr Ehemann Gian Andrea Franchi wollen helfen. Deshalb haben sie die Organisation Linea d’Ombra gegründet. Auf der ­Piazza della Libertà versorgen sie an diesem Tag die Wunden der Menschen, die nach monatelanger oder jahrelanger Reise über die Balkanroute in Triest Halt machen – laut Franchi seit fast drei Jahren jeden Tag.

„Diese Menschen haben kein Essen, keine Schuhe, sie bekommen keine Hilfe“, sagt Franchi. Dabei desinfiziert er eine Wunde am Arm eines pakistanischen Jungen. „Im letzten Jahr haben wir eine Anzeige wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung bekommen.“ Um fünf Uhr morgens habe die Polizei vor der Tür gestanden. „Aber kurz darauf wurde die Anzeige abgewiesen, weil es keine Gründe gab.“

„Für uns ist das hier die Mitte der Welt, wo Menschen von überall her zusammenkommen“, fügt Fornasir hinzu und gibt einem kleinen Mädchen, das mit seiner Familie aus Rojhilat im kurdischen Gebiet des Iran unterwegs ist, ein Bonbon.

Italienische Behörden drängten sie dazu, ihre Hilfsaktion an einen anderen Ort zu verlegen – ohne zu sagen, an welchen. „Wir haben uns um Tausende von Menschen gekümmert“, so Fornasir. „Wenn uns die Behörden wegschicken wollen, werden wir uns wehren.“

*Namen geändert

Aus dem Englischen: Jana Lapper

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