Flucht aus Nigeria: Madam, bring me to Europe!
Benin City ist Nigerias Hotspot der Emigration nach Europa. Präsident Buhari hat Alternativen zur Auswanderung auf die Agenda gesetzt.
„In Europa gibt es Strom und Sicherheit“, gibt Roland Nwoha, der für die Nichtregierungsorganisation Idia Renaissance Rückkehrer betreut, die Haltung der Emigranten wieder. In keiner anderen Region Nigerias ist es so üblich, dass Freunde und Familienangehörige nach Europa aufbrechen. Wer Autos oder gar Lkws voller gebrauchter Kühlschränke und Waschmaschinen zurückschicken kann, gilt als erfolgreich.
Das treibt andere an. Viele Familien sind schlichtweg stolz darauf, wenn es jemand in Europa geschafft hat und regelmäßig Geld zurückschickt. Welche Gefahren sie dafür auf sich genommen haben, hinterfragt niemand. Als das Auto mal wieder im Stau steht, ruft einer der kleinen Scheibenputzer, die für das Wischen der Autofenster ein paar Naira erwarten, den Scheibenwischer in der Hand: „Madam, bring me to Europe!“
Nicht alle schaffen es. Mitten in Benin City leben in der Notunterkunft der Hilfsorganisation Cusodow (Committee for the Support of the Dignity of Women) gerade zwei junge Mädchen mit ihren Babys. Sie sind Rückkehrerinnen aus Libyen, wo sie vergewaltigt wurden. Sie wissen nicht genau, wer die Väter ihrer Kinder sind.
Bilder von Rettungsschiffen ändern nichts
Nach dem Nachmittagsregen sitzen sie vor dem Eingang in der Sonne, die Kinder ihm Arm. Als eins anfängt zu weinen, wirkt die junge Mutter unbeholfen. Irgendwann beruhigt sich der Kleine wieder, und sie sagt: „Ich würde so gerne nach Europa gehen. Kannst du mich nicht dorthin bringen? Was soll ich schon in Nigeria machen?“ Sie grinst verlegen.
40 bis 70 Prozent der nigerianischen Libyen-Rückkehrer stammen Schätzungen zufolge aus dieser Region. Die Sehnsucht nach der Auswanderung ändert sich auch nicht, wenn die Bilder von den Rettungsschiffen im Mittelmeer über die Bildschirme in nigerianische Restaurants und Wohnzimmern flimmern. Wahrscheinlich haben die Nigerianer an Bord der Rettungsschiffe „Aquarius“ und „Lifeline“ hier Familie und Freunde und haben hier mit Gelegenheitsjobs ihre Reisekosten in Richtung Norden angespart.
Doch in der Öffentlichkeit erinnert daran nichts. Plakate werben für Kirchen, für Politiker – in sechs Monaten wird in Nigeria gewählt – und für Schnaps. Aber keins warnt vor Menschenhändlern, die vom Migrationsbusiness profitieren und seit Jahrzehnten überwiegend junge Frauen aus Benin City nach Europa bringen und dort zur Prostitution zwingen.
Dabei hat sich Gouverneur Godwin Obaseki, der seit November 2016 den Bundesstaat Edo regiert, auf die Fahnen geschrieben, den Menschenhandel zu bekämpfen. Er spricht das Thema offen an, auch mit Diplomaten und hohen Politikern wie Senatspräsident Bukola Saraki, der vor einiger Zeit zu Obaseki kam und lange blieb.
Spezialeinheit gegen Menschenhandel
Frühere Regierungen Nigerias sahen die Emigration nicht als Thema an, mit dem sie sich beschäftigen müssten. Die Regierung des 2015 gewählten Präsidenten Muhammadu Buhari hat es auf die politische Tagesordnung gesetzt. Dafür hat auch Europa gesorgt. Es sind eher internationale Sender als lokale Medien, die über Migration berichten, häufig aus der Perspektive des Nordens.
In Benin City ließ Gouverneur Obaseki eine Spezialeinheit zum Kampf gegen Menschenhandel gründen. Sie feierte Mitte August ihr einjähriges Bestehen. Godwin Obaseki sei es ernst, beteuert Abieyuwa Oyemwense, die Geschäftsführerin der Spezialeinheit: „Es war dringend notwendig, die Einheit zu gründen. Die Zahl der irregulären Migration war immens. Der Gouverneur wollte den Trend beenden. Im Mai hat er das Gesetz gegen den Menschenhandel unterzeichnet.“
Ihr Büro liegt auf dem Gelände der Landesregierung, die großen Bäume erinnern mehr an einen Park. In unmittelbarer Nähe liegt der Golfplatz. Der Lärm der Innenstadt ist weit weg. Zusammen setzt sich die Einheit aus Mitarbeitern der Landesregierung, Vertretern der Nationalen Agentur zum Verbot von Menschenhandel, nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und religiösen Verbänden.
In Schulen, Kirchen und Moscheen warnen ihre Mitarbeiter vor den Risiken der Migration ohne Papiere. Für Rückkehrer hat sie ein 20-stufiges Rehabilitationsprogramm eingeführt, an dem seit November rund 3.500 Menschen teilgenommen haben. Wer zurückkommt, soll über die meist traumatischen Erfahrungen der Reise sprechen können und Unterstützung bei der Berufswahl finden – bisherige Angebote einer Kurzausbildung als Frisörin oder Computerkurse halten junge Menschen kaum davon ab, einen erneuten Versuch zu wagen.
Wieso Edo State?
„Es wird ein sehr teures Projekt werden“, sagt Oyemwense über die Pläne ihrer Behörde. Wichtig sei Kapital für junge Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen sollen. Die Stärkung von Unternehmern und der Zugang zu Krediten gilt aktuell in zahlreichen Gesprächen als der womöglich wichtigste Baustein, um Migration einzudämmen. Soji Apampa, Geschäftsführer der Antikorruptionsorganisation Integrity, fordert noch etwas anderes: „Anstelle von Migranten sollten mehr Produkte nach Europa exportiert werden.“
Die Spezialeinheit will auch wissenschaftlich ermitteln, weshalb ausgerechnet aus Edo State so viele auswandern. „Es ist der Hotspot, aber warum? Wir sind weder in Nigeria noch in Westafrika der ärmste Staat oder der, wo die Menschen am stärksten benachteiligt sind“, so Oyemwense. Dann fügt sie hinzu: „Die Mehrheit verlässt die Region allerdings gar nicht. Viele, die besonders arm sind, würden das zwar gerne. Aber sie haben keine Möglichkeiten dazu.“
Soji Apampa, Geschäftsführer der Antikorruptionsorganisation
Auf die Frage, ob der Staat viel zu spät auf das Phänomen reagiere, sagt sie knapp: „Besser jetzt als gar nicht.“ Nun sei die Erkenntnis da, dass es sich um eine gravierende Herausforderung handle.
Auf dem Europa-Afrika-Gipfel in der Elfenbeinküste im November äußerte sich Nigerias Präsident Buhari zu den Sklavenmärkten von Libyen, die die Weltöffentlichkeit erregten; im Juli ordnete er die sofortige Rückführung von 230 in Russland gestrandeten Nigerianern an. Offiziell heißt es, deren Reiseagentur habe nach Nigerias Aus in der Fußball-WM die Rückflüge abgesagt. Russland wird jedoch vermehrt zum Ziel für Menschenhändler.
Erfolgsgeschichten erzhlt
„Nigerianische Politiker kümmern sich mehr um Migration“, bestätigt Ketil Karlsen, Chef der EU-Delegation in Nigeria „Das heißt nicht unbedingt, dass Migration genauso wie in Europa gesehen wird. Migration sorgt außerdem nicht für das Zerbrechen einer Regierung.“ Und auch Wahlen sind damit nicht zu gewinnen oder zu verlieren.
Das Sterben im Mittelmeer relativiert sich angesichts der Situation in Nigeria selbst. Bis zum 31. Mai gelangten nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) 916 Nigerianer über das Mittelmeer nach Europa. Im gleichen Zeitraum, so das lokale Büro von Amnesty International, starben über 1.800 Personen durch Anschläge und gewaltsame Konflikte in Zentral- und Nordostnigeria.
Vor Ort werden außerdem die Erfolgsgeschichten von jenen erzählt, die es schaffen und nach Jahren ohne Papiere eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. „Dazu tragen auch die Rücküberweisungen bei, die in einigen Teilen des Landes ein wesentlicher Teil der Wirtschaft sind“, sagt Karlsen. Laut Weltbank hat die nigerianische Diaspora vergangenes Jahr 22 Milliarden US-Dollar an Angehörige in der Heimat geschickt.
Rapides Wachstum der Bevölkerung
Karlsen verweist auf das rapide Bevölkerungswachstum in Nigeria, das heute 190 Millionen Einwohner hat – jedes Jahr werden es vier bis fünf Millionen mehr. „Wir haben den Zwang, jedes Jahr mehrere Millionen zusätzlicher Jobs zu schaffen. Es ist deshalb fundamental, mehr externe Investitionen zu haben.“
In Benin City setzt Abieyuwa Oyemwense auf Zusammenarbeit mit der EU. „Das ist nicht nur eine Angelegenheit von Edo. Das ist eine globale Krise. Wir erwarten 100 Prozent Unterstützung von Europa.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind