Flucht aus Afghanistan: Aufnahmeprogramm vorerst gestoppt
Bedrohte Afghan*innen bekommen erst einmal keine Visa mehr für Deutschland. Nach Missbrauchsversuchen sollen Prüfverfahren ausgebaut werden.
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„Dass das Aufnahmeprogramm gestoppt wurde, bevor es überhaupt richtig losging, steht symbolisch für das Versagen der Bundesregierung in Sachen Afghanistan“, kritisierte Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion, gegenüber der taz. Dabei zähle „jeder Tag“, so Bünger. Es seien bereits 35 Menschen gestorben, „die heute schon in Sicherheit in Deutschland sein könnten“.
Formal ist nicht das Bundesaufnahmeprogramm gestoppt, sondern die Visavergabe für afghanische Staatsbüger*innen sowie die unterstützte Ausreise. Die sollen wieder aufgenommen werden, wenn „optimierte Sicherheitsverfahren“ in Form von Sicherheitsinterviews eingeführt seien, sagte vergangene Woche Christofer Burger, Sprecher des Auswärtigen Amts. Hintergrund sind Medienberichte des Cicero, wonach sich auf den Aufnahmelisten „zahlreiche Islamisten und Scharia-Gelehrte“ befänden.
Schnelle Lösungen müsse gefunden werden
Eine Darstellung, der Burger vehement widersprach: Zwar habe es Hinweise auf Missbrauchsversuche gegeben. Dabei sei es aber vor allem um Menschen gegangen, die in der Zwischenzeit in einen Nachbarstaat geflohen seien – für das Programm ist ein Aufenthalt in Afghanistan Voraussetzung. Lediglich in einem einzelnen Fall sei es wohl um einen Gefährder gegangen. „Hier haben unsere bereits etablierten Prüfmechanismen funktioniert“, betonte Burger. Das Verfahren sei gestoppt worden. Dennoch soll die Sicherheitsüberprüfung nun verbessert werden.
Es sei das gemeinsame Ziel von Auswärtigem Amt und Bundesinnenministerium, die neuen Sicherheitsmaßnahmen „so schnell wie möglich“ zu implementieren, so Burger. Man wisse, dass für die Menschen vor Ort „jeder Tag zählt“. Einen genauen Zeitplan nannte er nicht. Die Warnungen waren laut Cicero aus der deutschen Botschaft im pakistanischen Islamabad gekommen. Dorthin oder in den Iran müssen sich Afghan*innen mit Aufnahmezusage für ihr Visum wenden, weil es im Land selbst keine Botschaft mehr gibt.
„Natürlich kann man Gefährdungen der Sicherheit in Deutschland nicht hinnehmen“, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh der taz. Das dürfe jedoch nicht dazu führen, „dass Menschen, deren Sicherheit höchst gefährdet ist, nicht nach Deutschland kommen können“. Es müsse „innerhalb weniger Monate, im Idealfall weniger Wochen“ eine Lösung gefunden werden. „Es kann nicht sein, dass wir jetzt sechs Monate verlieren.“
Kritik von Pro Asyl
In der Union sieht man das anders. Das Bundesaufnahmeprogramm habe einen „redlichen Zweck“, sei aber „überdimensioniert und intransparent“, erklärte Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. „Es war so leider nur eine Frage der Zeit, bis sich die zahlreichen Gerüchte um Korruption und Vetternwirtschaft im von den bewährten Visumsstrukturen abgekoppelten Bundesaufnahmeprogramm bestätigen.“ Das Auswärtige Amt müsse die Vorwürfe lückenlos aufklären und das Programm bis dahin ausgesetzt lassen, forderte Hardt.
Pro Asyl kritisierte die Entscheidung, das Visaverfahren aufgrund bisher unbelegter Vorwürfe ganz auszusetzen. „Wir sind dafür, dass Sicherheitsoptimierungen vorgenommen werden, wenn diese nötig sind“, sagte der taz Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher der NGO. „Aber das darf nicht zu einem Nachteil für diejenigen führen, die von den Taliban bedroht werden.“
Durch die Entscheidung seien derzeit alle Wege zur Ausreise aus Afghanistan blockiert, auch über das Ortskräfteverfahren oder anderer humanitärer Gründe. „Wir wissen von über 1.000 Personen, die mit einer Aufnahmezusage ausgereist sind, um ihr Visum zu erhalten, und die jetzt nicht wissen, wie es weitergeht“, so Alaows. Zurück könnten sie aber auch nicht. „Die Taliban beobachten genau, wer ausreist. Bei einer Rückkehr wären diese Menschen in noch größerer Gefahr als vorher.“
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