Filmfest in Venedig: Multipenetration und Kinderkriegen
Sex mit Aliens: Im Schwindel der Vorstellungswelten lässt man sich im Vaporetto über die Gewässer von Venedig gleiten.
Pro Tag in Venedig gilt es, 40 Minuten auf dem Wasser zu verbringen. Nicht schwimmend, sondern im Vaporetto, was schneller geht und komfortabler ist. Doch selbst das kann anhaltende Wirkung zeigen. So scheint heute noch am Nachmittag der Tisch mit dem Computer darauf zu schwanken oder gleich der gesamte Raum tüchtig Seegang zu haben. Zum Glück gibt es die Tastatur, um sich daran festzuhalten.
Vielleicht kommt der Schwindel aber auch von den seltsamen Vorstellungswelten, in die man in Venedig in regelmäßigen Abständen hineingeschleudert wird. Nicht jede davon will für sich einnehmen, tut aber meistens gleichwohl etwas mit dem Gemüt. Der Mexikaner Amat Escalante und sein Wettbewerbsfilm „La región salvaje“ (The Untamed) sind so ein Fall. Um Sex geht es bei ihm, um unterdrückte und befreite Triebe: etwa um einen Schwulen, der – aus Angst vor den Eltern? – heimlich mit dem Bruder seiner Ehefrau verkehrt, und eine Frau, die einem außerirdischen Wesen verfallen ist, das dank zahlreicher phallischer Tentakeln – in Andrzej Żuławskis „Possession“ bekam man 1981 ein sehr ähnliches Wesen zu sehen – multipenetrationsfähig ist.
Zwei Biologen haben sich des Aliens angenommen und leben mit dem zuwendungsbedürftigen Gast in einer entlegenen Hütte außerhalb von Tijuana. Immer wieder kommen aus der Stadt junge Besucher mit dem Wunsch nach einer sexuellen Erfahrung, die ihre bisherigen menschlichen (oder anderweitigen) Kontakte verblassen lässt. Das geht eine Weile gut, doch manchmal verliert das Wesen Interesse oder wird seiner Lustobjekte einfach überdrüssig, was für diese nicht immer gut ausgeht.
Warum Escalante diese sexuelle Befreiungsgeschichte erzählt, ob es ihm dabei ernsthaft um Befreiung geht oder er einfach nur vor intimen Kontakten mit Außerirdischen warnen möchte, bleibt bei alledem herzlich unklar. Wenn hinter der offenkundigen Symbolik noch eine tiefere psychoanalytische Botschaft schlummern sollte, die halbwegs Sinn ergibt, hat Escalante sie gründlich in seinem konfusen Werk versteckt.
Ein höchst italienisches Thema
Deutlich klarer ist die Botschaft in Roan Johnsons italienischem Wettbewerbsbeitrag „Piuma“ (Feder): Ferro und Cate, ein kaum volljähriges Paar, haben nicht aufgepasst, und jetzt haben sie den Salat: Cate ist schwanger, und weil sie seit ihrer ersten Abtreibung bei der Empfängnis mit Risiken rechnen muss, will sie, aller praktischen Hindernisse zum Trotz, das Kind behalten. Was Ferros Eltern nicht gerade erfreut: der kann nicht mal für sich selbst sorgen.
Der 1974 geborene Regisseur Roan Johnson widmet sich in „Piuma“, der auf den Filmplakaten als der „leichteste Film des Sommers“ beworben wird, einem höchst italienischen Thema: dem Kinderkriegen. Im vergangenen Jahr erreichte die Geburtenrate in Italien einen historischen Tiefstand, und Johnson zählt zu der Generation, die sich daran gewöhnt hat, erst einmal im Beruf, wenn überhaupt, Fuß zu fassen, bevor man sich Fragen der Familienplanung widmet.
Das mit dem „leichten Film“ stimmt schon mal insofern, als sich „Piuma“ des Themas mit römisch-derbem Humor annimmt, was für einige höchst witzige Dialoge sorgt. Das mit dem „leicht“ trifft aber ebenfalls auf die Machart des gesamten Films zu, der kaum von Klischees abrücken mag, selbstverständlich auf ein versöhnliches Ende zusteuert und sich ästhetisch in einem gewichtsarmen Arthouse-Hochglanz gefällt, der keinerlei künstlerische Ambitionen erkennen lässt. Vielleicht wäre es ja einmal Zeit für einen Preis für den simpelsten Film? Beim Aufstehen vom Schreibtisch schwankt der Raum noch immer.
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