Feuerattacke auf Obdachlosen in Berlin: Ein Streich wird ernst
Im Prozess gegen sieben Flüchtlinge bestreiten die Angeklagten eine Tötungsabsicht. Der schlafende Obdachlose war mit einem Schock davongekommen.
Die Zeitanzeige der Überwachungskamera zeigt 2:02:38 Uhr. In diesem Moment geht an einer Bank, auf der ein Obdachloser schläft, ein junger Mann in rotem Anorak in die Hocke. Was er genau macht, ist nicht zu erkennen. Fast zeitgleich ziehen sich seine sechs Begleiter – einige sitzen auf der Lehne der Bank – die Kapuzen ihrer Jacken über die Köpfe.
Am zweiten Verhandlungstag im Prozess gegen sieben junge Flüchtlinge hat sich die 13. Jugendstrafkammer des Berliner Landgerichts am Freitag mehrere Videos von Überwachungskameras angeschaut. Aufgenommen worden waren sie am frühen Morgen des 25. Dezember 2016 auf dem U-Bahnhof Schönleinstraße in Neukölln. Die Angeklagten im Alter zwischen 16 und 21 Jahren sollen versucht haben, einen Obdachlosen anzuzünden. Fährgäste löschten das Feuer. Der Mann blieb unverletzt.
Sechs Angeklagten wird versuchter Mord vorgeworfen, dem Siebten unterlassene Hilfeleistung. Spontan hätten sie sich zu der Tat entschlossen, meint die Staatsanwaltschaft. Die Aufnahmen sind ohne Ton. Zunächst interessieren sich die jungen Männer überhaupt nicht für den schlafenden Mann. Turning point ist der Moment, als die Kapuzen hochgezogen werden. Der Mann im roten Anorak ist Nour N., der 21-jährige Hauptangeklagte. Körperlich ist er der Kleinste, auch im Gesicht wirkt er noch ausgesprochen jugendlich.
In der Erklärung, die sein Verteidiger am Freitag für ihn verlas, gab N. zu, derjenige zu sein, der das Feuer gelegt habe. Es sei aber nie seine Absicht gewesen, den Schlafenden in Lebensgefahr zu bringen. „Ich bin nicht so verroht – trotz allem, was was ich erlebt habe“. Ein Streich habe es sein sollen, auch wenn er sich nicht mehr traue, das heute noch so zu bezeichnen. Auch habe er an dem Abend viele Drogen genommen, unter anderen Heroin, und Alkohol getrunken.
Auf die Idee gebracht hätten ihn die Streiche, die man sich in den Flüchtlingsunterkünften gespielt habe. Aus Langeweile habe man Schlafenden dort erhitzte Kunststoffkügelchen zwischen die nackten Zehen gesteckt. „Die hat man damit aufgeschreckt“. Er schäme sich sehr für das was er getan habe, „zumal damit auch ein verheerendes Bild auf andere Flüchtlinge geworfen wird“.
Um 2:03:35 Uhr sieht man neben dem Obdachlosen einen Feuerschein, der schnell größer wird. Die jungen Männer gehen langsam zum anderen Ende des Bahnsteigs. Erst als ein Fahrgast dem Obdachlosen den Rucksack wegreißt, schreckt der Mann hoch.
Vier der Mitangeklagten ließen durch ihre Anwälte gleichfalls Erklärungen verlesen, in denen sie eine Tötungsabsicht bestreiten. Er habe den Streich albern gefunden und eine Kapuze übergezogen, um sich abzugrenzen, erklärte der 18-jährige Mohammad M.
„Niemand ging davon aus, dass es zu brennen beginnt“, so Khaled A., gleichfalls 18 Jahre alt. Erst aus U-Bahnzug heraus habe er durch das Fenster den Qualm auf dem Bahnsteig gesehen. Auf einem nach der Tat in dem Zug aufgenommenen Video sieht man einige der Angeklagten herumalbern. „Das muss Ausdruck meiner Hilflosigkeit in der Situation gewesen sein“, sagte A. „Ich bin froh, dass ich in Deutschland der Gewalt entkommen bin, die ich in Syrien erlebt habe“.
Nur kurz war die Erklärung des 17-jährigen Eyad S. Er ist der einzige, der auf dem Video mit dem Rücken zum Geschehen auf der Bank sitzt und an einer Zigarette zieht. Im Unterschied zu den anderen Angeklagten sitzt er nicht in Untersuchungshaft, denn ihm wird nur unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen. „Ich hätte nicht weggehen dürfen, ohne das Feuer zu löschen“, ließ Eyad S. durch seine Anwältin erklären. Am Dienstag, wenn der Prozess fortgesetzt wird, werde das Verfahren gegen S. vermutlich abgetrennt, kündigte die Vorsitzende Richterin Regina Alex an.
Die Staatsanwaltschaft hat die Entstehung des Brandes und die Entwicklung des Feuers von Brandexperten nachstellen lassen. Auch davon gibt es ein Video, aber am Freitag wurde es noch nicht gezeigt. „Ich finde, dass das für unser Verfahren nicht relevant ist“, sagte Richterin Alex. Bei der Frage, ob die Angeklagten mit einem Tötungsvorsatz gehandelt hätten, helfe so ein Laborversuch „nicht weiter“.
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