Fetisch Straßenbau: Eine Autobahn für Frau Holle
Die A44 in Nordhessen ist die teuerste Autobahn Deutschlands. Auch nach jahrzehntelanger Planung ist sie noch lange nicht fertig.
Links türmt sich der Hohe Meißner auf, der höchste Berg in der Region mit gut 750 Metern. Es heißt, dort beginne das Reich von Frau Holle. Es wird dunkel, das Radio rauscht, wieder ein Tunnel. Danach folgen in kurzen Abständen drei Grünbrücken, von denen der Waschbär an der Mittelleitplanke offensichtlich keine erwischt hat. Nach ein paar sanften Kurven ist dann schon wieder Schluss.
Die A44, die teuerste Autobahn Deutschlands, vielleicht sogar der Welt, ist bisher nur 17 Kilometer lang. Das Projekt hat bereits über 2,7 Milliarden Euro verschlungen. Das macht knapp 39 Millionen Euro für jeden Kilometer der gesamten Neubaustrecke, rund sechsmal so viel wie normal. Experten gehen davon aus, dass es noch viel teurer wird. Wenn die A44 von Kassel bis Eisenach irgendwann fertig ist, wird sie 64,3 Kilometer lang sein mit 15 Brücken und 13 Tunneln, einer davon mit 4,2 Kilometern der zweitlängste Autobahntunnel Deutschlands. Die Strecke windet sich durch enge Täler, dicht vorbei an Fachwerkdörfchen, von denen die Autofahrer hinter meterhohen Wällen und Schallschutzmauern nichts mitbekommen.
„Wichtiger Lückenschluss“, „Motor für die regionale Wirtschaft“, sagen die Befürworter der A44, deren Zahl zurückgeht. „Irrsinnig“, „völlig überflüssig“ und „peinlich“, sagen die Gegner, deren Zahl wächst. Dass irgendwas mit dieser Autobahn nicht stimmt, wird klar, wenn man versucht, die Geschichte der Planung nachzuvollziehen.
Die ursprüngliche Idee einer Ost-West-Verbindung hatten 1935 die Nationalsozialisten. Die Trasse sollte weitgehend gerade verlaufen. Es wurde gerodet, Teile einer Brücke gebaut. Die steht noch, einsam im Söhrewald zehn Kilometer südöstlich von Kassel. Die Leute nennen sie „So-da-Brücke“, weil sie einfach so da steht.
Rainer Böhm kennt die Brücke und die Geschichte der A44 genau. Mehrere Ordner mit Plänen, Protokollen, Zeitungsartikeln und Gutachten hat der pensionierte Ingenieur gesammelt. Böhm war ab 1969 Planungschef im Straßenbauamt Hessen Nord. Zu diesem Zeitpunkt lagen dort die Pläne für die A44 wieder auf dem Tisch. Doch dem Projekt wurde die Dringlichkeit abgesprochen. Der Werra-Meißner-Kreis, durch den die Straße laufen sollte, war damals Zonenrandgebiet, ein toter Winkel für Investoren und Infrastrukturplaner.
Mit der Grenzöffnung änderte sich das schlagartig. Plötzlich rollten Autos durch die Ortschaften. Das war die Stunde von Wendepolitiker Günther Krause (CDU). Unter Sause-Krause als Bundesverkehrsminister wurden die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit beschlossen. Der Neubau der Autobahn 44 zwischen Kassel und Eisenach war die Nummer 15 von insgesamt 17. Der damalige, aus Kassel stammende hessische Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) war nicht begeistert. Seine rot-grüne Landesregierung hielt einen dreispurigen Ausbau der B7 mit Ortsumgehungen für ausreichend.
Nach einigem Hü und Hott haute Krause auf den Tisch – und die Autobahn war beschlossene Sache. Kostenpunkt damals: umgerechnet 460 Millionen Euro. Wieso es letztendlich auf die jetzige Trasse parallel zur B7 hinauslief durch den „ökologisch und geografisch besonders schwierigen Planungsraum“, wie es das Bundesverkehrsministerium ausdrückt, ist auch für Straßenplaner Rainer Böhm ein Rätsel. Er zuckt die Schulter: „Die Straße verläuft an der falschen Stelle.“
Ginge es nach Wolf von Bültzingslöwen, gäbe es die A44 gar nicht. Von seinem Wintergarten schaut er auf Fliederbüsche und Obstbäume. Die Autobahn schlängelt sich fünf Kilometer weiter unten im Tal. Genutzt hat er sie noch kein einziges Mal. „Als wir von Frankfurt hier an den Meißner gezogen sind, wollten wir die Ruhe genießen“, sagt Bültzingslöwen. Stattdessen wälzte er als BUND-Aktivist und Mitglied einer Bürgerinitiative gegen den A44-Neubau seitenlange Gutachten, schrieb Briefe, Anfragen, nahm an Anhörungen teil, fuhr zu Gerichtsverhandlungen, ließ sich beschimpfen. Jahrelang.
„Jetzt haben wir das Ding trotzdem.“ Frustriert? „Nee“, sagt der pensionierte Tischler. „Okay, gemessen an unserer Maximalforderung „Keine A44“ haben wir maximal verloren, aber durch unsere Klagen wurden Standards für Umwelt- und Klimaschutz angehoben.“
Befürworter der A44 kreiden Naturschützern immer wieder an, sie seien verantwortlich dafür, dass der ganze Bau so lange dauert und immer teurer würde. Bültzingslöwen lacht. „Das mit der Verzögerung stimmt vielleicht sogar an manchen Stellen.“ Was die Kosten angehe, hätte der BUND den Planern in manchem Punkt den „Hintern gerettet“. Ein vom BUND in Auftrag gegebenes Gutachten hatte gezeigt, dass bei einem der Tunnel der Grundwasserspiegel stärker sinkt, als die Planer berechnet hatten. Der Tunnel wurde daraufhin in eine Art Trog gelegt, um zu verhindern, dass die Fahrbahn in Zukunft aufschwemmt und somit kaputtgeht.
Die Pannenliste der A44 ist mittlerweile fast so lang wie die der Affären und Betrügereien von Ex-Minister Günther Krause. Da ist zum Beispiel der Tunnel, der unter dem Dorf Küchen verläuft, teilweise nur wenige Meter unter Wohnhäusern. Nach Sprengungen sackten Häuser ab, andere bekamen Risse, 22 von 120 Wohnhäusern sind beschädigt. Die hessische Behörde Hessen Mobil, die den Bau leitete, musste Entschädigungen zahlen und vier kaputte Häuser aufkaufen. Man sei beim Bau auf Gesteinsarten getroffen, die man so nicht erwartet habe, sagte 2014 Reinhold Rehbein, A44-Projektleiter von Hessen Mobil. „Überraschungen“ könne man trotz Probebohrungen nie ganz ausschließen.
Unter den 13 geplanten Tunneln warten weitere Überraschungseier. So verläuft der Hirschhagener Tunnel unter dem Gelände einer früheren Sprengstofffabrik der Nationalsozialisten. Während des Baus kam heraus, dass das abgesenkte Grundwasser durch Rückstände der Sprengstoffproduktion verseucht war. Das Wasser wurde gesäubert und in das Flüsschen Losse weitergeleitet. Im Osten Richtung Eisenach sind einige Tunnel noch nicht gebaut, die Kostenkalkulation bei manchen ist noch völlig veraltet, von möglichen geologischen Überraschungen mal ganz abgesehen.
Im Ort Hoheneiche, an dem die Autobahn direkt entlangführt, hat der Lärm durch den Lärmschutzwall zugenommen. Davor liegen in dem engen Tal nämlich eine Bundesstraße und eine gut frequentierte Bahnstrecke. Die Geräusche prallen jetzt an dem berghohen Autobahnwall ab und schallen lauter ins Dorf zurück.
Ein leises Verkehrsrauschen vernimmt man zwar im Stiftswald südöstlich von Kassel auch, aber das wird vom Rauschen der mächtigen Eichen geschluckt, für die man zwei, drei Erwachsene braucht, um sie zu umarmen. An manchen der Stämme sind blau-weiße Markierungen, die zukünftige Trasse des letzten Teilstücks der A44. Vielleicht: Unterhalb des Stiftswalds liegt Kaufungen, quasi das gallische Dorf des Autobahnprotests. Seit Jahrzehnten wird hier gegen den Bau gekämpft. „Hätte mir jemand vor dreißig Jahren gesagt, dass es hier heute immer noch keine Autobahn gibt, hätte ich laut gelacht“, sagt Claus Brechmann, Aktivist und BUND-Sprecher aus Niederkaufungen.
Der Faktor Zeit steht noch auf der Seite der Autobahngegner. Gegen die vorgesehene Trasse von der Anschlussstelle Kassel-Ost durch den Stiftswald entlang des Flüsschens Losse sind über 2.000 Einwände beim Regierungspräsidium Kassel eingegangen. Die müssen geprüft werden. Das dauert. „Vielleicht kriegen wir das Planungsjubiläum von 100 Jahren ja noch voll“, scherzt Jona Königes von der Bürgerinitiative „Keine A44 – Verkehrswende jetzt“. Es ginge jetzt darum zu mobilisieren, die BI unterstützt auch die Protestaktionen von Aktivist*innen, die den Stiftswald besetzen wollen. „Unsere Hoffnung besteht darin, dass vielleicht noch ein Umdenken stattfinden wird“, sagt Brechmann.
Ein Expertengutachten war schon 2015 zu dem Schluss gekommen, dass die A44 unnötig ist: weil alternative Strecken wie die A38 oder die A4 gebaut wurden, weil die prognostizierte Verkehrsbelastung nicht eingetreten ist, weil die Kosten unverhältnismäßig sind. Seit 18 Jahren wurden für die A44 weder Bedarf noch Wirtschaftlichkeit geprüft. Kritiker vermuten, dass die A44 heute nie genehmigt würde.
Doch das mit der Hoffnung ist so eine Sache: Wenn einmal ein Projekt im Bundesverkehrswegeplan steht, dann wird daran nicht mehr gerüttelt.
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