Festival „Tanz im August“: Leben im „in between“
Das Festival Tanz im August hat mit multimedialen Performances begonnen. Die Spannweite reichte von Geisterbeschwörung bis Klaviertraktierung.
„We are back“, frohlockte Virve Sutinen, die künstlerische Leiterin des Festivals, zur Eröffnung der 33. Ausgabe am vergangenen Freitagabend im Hebbel Theater, und alle im Saal konnten nur nicken. Ja, wir können wieder im Theater Tanz erleben – mit Maske, reichlich Abstand und dreimal G-gecheckt.
Zum Glück bot das erste Wochenende Stoff gegen die aktuelle Erdenschwere. „Wohin geht der Körper, wenn wir darüber hinausgehen?“ – um diese Frage kreist die Expedition, zu der Choy Ka Fai im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst in Neukölln einlädt. Er lässt uns an seiner Reise durch verschiedene Länder Asiens teilhaben, an seinen Begegnungen mit Schamanen, ihren Ritualen, ihren Lebensumständen.
Auf großen und kleinen Bildschirmen eröffnet uns der Mann aus Singapur, der seit 2013 in Berlin lebt, eine Welt, die sehr weit entfernt scheint von unserer technologisch hoch gerüsteten Existenz. Interviews, erfundene Youtube-Clips, Kostüme – Choy Ka Fai bewegt sich zwischen Dokumentation und Fiktion.
Auf einem kreisrunden Podest, umzingelt von sechs großen Bildschirmen, folgen wir „The Wanderer“. Die 6-Kanal-Videoinstallation startet mit einem 3-D-Spielprototyp, der uns auf die Insel Formosa 2096 beamt. Menschenleere Straßen, Feuer, graue Nebel – eine Katastrophenlandschaft, durch die ein androider Schamane streift, der mithilfe eines alten Mantras die traditionsvergessenen Menschen wieder mit dem alten Wissen verbinden will.
Tanz im August, verschiedene Spielorte, bis 22. 8., im Netz hier zu finden.
Geisterbeschwörung im Hightech-Gewand? Schamanistische Rituale in die virtuelle Welt übersetzen? Können die so eng mit Glauben, mit realen menschlichen Körpern, der Natur verbundenen Praktiken in das binäre System „eingepflegt“ werden? Choy Ka Fai bietet uns Einblicke in abgeschiedene Welten in Vietnam, Singapur und Sibirien. Farbenprächtige Kostüme, reich geschmückte Räume, die Sinne raubende Rituale. Das ist schön anzusehen, exotisch. Aber Choy Ka Fai, der sich selbst eine „neutrale spirituelle Aura“ bescheinigt, zeigt uns auch, dass an den Rändern der Zeremonien selbst an diesen Gegenden die Gegenwart nagt.
Schräge Artisten
Der Aufprall in Echtzeit ging am Abend im Hebbel Theater glimpflich ab, denn die sieben Gestalten, die die argentinische Choreografin Ayelen Parolin in ihrem Stück „WEG“ auf die Bühne stellt, sind ein schräges Völkchen. Die Trikots und Leggings wurden mit Halskrausen, Puffärmeln und Stoffpuscheln aufgehübscht. In kurzen Bewegungspartikeln schweift die kleine Gruppe über die Bühne. Waren da nicht uns allzu bekannte Hüftschwünge? Marschierende Beine? Sprünge aus dem Ballettrepertoire?
Pantomimische Einlagen, kleine Tändeleien, das Ganze bliebe freundlich-harmlos, wäre da nicht die Frau am Klavier: Lea Petra. Sie schrappt CD-Hüllen über die Tasten, zerschlägt sie auf dem schwarzen Holzkörper, traktiert das Instrument mit Eisenrohren, knallt sie aneinander – Anarchismus pur. Und dann spielt sie einfach. Ihre Performance war so überraschend wie komisch.
Größer hätte der Gegensatz zu der silbernen Frau in der St.-Elisabeth-Kirche eine Stunde später nicht sein können. In „Ayur“ gleitet die tunesische Tänzerin Sondos Belhassen in geschmeidigen, weichen Bewegungen durch den leeren Kirchenraum, in dem eine offene Kuppel aus langen Papierrollen steht. Die zierliche Frau mit der grauen Lockenmähne füllt ohne Mühe den sakralen Raum.
In seine Stille mischt sich Vogelgezwitscher, später von ihr gesprochene Gedichte und Musik. Sie führt uns mit ihren feinen Handbewegungen in Schlangenlinien durch die Luft, zeigend richtet sie ihre Finger, ihr Gesicht zum Himmel. Leichtfüßig nähert sie sich dem Publikum, umrundet die Kuppel, wendet ihren drahtigen Körper und entfernt sich wieder auf leisen Sohlen. Der marokkanische Choreograf Radouan Mriziga hat sich für das Solo von der antiken Mondgöttin Karthagos Tanit inspirieren lassen.
Wieder folgen wir einer Suche nach alten Weisheiten. Wir lauschen den Gedichten von Lilia Ben Romdhane, dem Rap von Mehdi Chammem und vergessen mit der silbernen Frau alles, was vor der Tür passiert.
Wetter stiehlt nicht die Show
Am Samstagabend zog die Performance vor die Tür, und das Wetter übernahm die Hauptrolle. Dieser Abend wird lange nicht in Vergessenheit geraten; das gilt für das Publikum genauso wie für die drei fantastischen Performer aus Paris. Die Freilichtbühne Weißensee: Ein Zeltdach spannt sich über die offene Bühne und der Himmel über die langen Bankreihen.
Mit dem ersten Song fing es an zu tröpfeln, zwei Songs später regnete es richtig. In Windeseile wurden Plastikcapes verteilt, und alle blieben sitzen – niemand ging. Und die drei tanzten ohne Innehalten.
„Underdogs“, das neue Stück von Anne Nguyen, ist kein Stück. Denn die Pariserin, die den Urban Dance seit Jahren auf die Bühne bringt, hat eine Songliste zusammengestellt, einen Mix aus Rap und alten Hits aus der Motown-Ära. Jeden Song inszeniert sie mit Elementen aus dem Breakdance-Repertoire wie einen kurzen Film über Liebe, Gewalt, Kampf.
In den Himmel geballte Fäuste, Finger an Gewehrläufen, eine Schlägerei in Slow Motion, aber keine akrobatischen Drehungen oder wilden Sprünge. Das Trio, zwei Männer, eine Frau, illustriert die Songtexte mit locking, popping, posing. Virtuos getanzt, aber warum lässt Nguyen ihre Tänzer nicht von der Leine? Niemand tat das an diesem Eröffnungswochenende. Keine explodierenden Gefühle, keine tobenden Körper. Es gab mehr intellektuelle Reisen in die Vergangenheit als in die Zukunft. Zufall? Oder leben wir alle gerade „in between“?
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