Feminismus in Indien: Aus Unterdrückung wächst Widerstand

Junge Frauen brauchen Mut, um in Indien für feministische Ziele einzutreten. Aber sie kämpfen weiter gegen häusliche Gewalt und andere Missstände.

Eine indische Frau fährt mit drei Frauen auf einem Traktor

Fuhren Traktoren und zeigten Mut: 2021 waren Tausende von Frauen an Bauernprotesten beteiligt Foto: Ha­rish Tyagi/EPA

In Indien kamen Frauen meiner Generation Anfang oder Mitte der siebziger Jahre zum Feminismus. Genau wie die neue Nation waren viele von uns zwischen zwanzig und dreißig und vom Feuer des Idealismus erfüllt. Um uns herum fanden dynamische und weitreichende soziale und politische Bewegungen statt – die Bruchlinien des neuen Nationalstaats begannen sichtbar zu werden und überall protestierten Menschen für die uneingelösten Versprechungen der Unabhängigkeit.

In Maharashtra demonstrierten Tausende armer Kleinbäuerinnen und -bauern, mehr als die Hälfte von ihnen Frauen, gegen ausbeuterische Landpraktiken; in Gujarat gingen Frauen mit ihren Nudelhölzern, Auflaufformen und Schöpfkellen auf die Straße, um gegen die steigenden Nahrungsmittelpreise zu protestieren. An einigen Demonstrationen nahmen bis zu 25.000 Frauen teil. In Bihar kämpften Frauen und Männer gemeinsam, um von reichen Land­be­sit­ze­r*in­nen Land für kleine Farm­päch­te­r*in­nen zurückzufordern.

In Garhwal eilten Frauen aus ihren Häusern, um Bäume zu umklammern und deren Fällung durch raffgierige Industrielle zu verhindern. Überall waren Frauen in diesen Bewegungen an vorderster Front.

Ein Feuer in unserer Seele

Für diejenigen von uns, die wie ich an städtischen Orten wie Universitäten zum Feminismus kamen, war diese Welle des Aktivismus großartig und inspirierend. Viele fühlten sich davon angezogen und brachen ihre Ausbildung ab, um „der Bewegung“ beizutreten. Andere blieben und brachten ihre neu gewonnenen Einsichten über die Realitäten des unabhängigen Indien in ihre Arbeit ein. Wir waren stolz darauf, Teil des unabhängigen Indien zu sein, aber gleichzeitig manchen Richtungen gegenüber kritisch, die unsere nationale Führung eingeschlagen hatte, und Protest war unsere Art, Veränderungen zu fordern. Ein Feuer brannte in unserer Seele.

Porträt Urvashi Butalia

Urvashi Butalia ist Mitbegründerin der feministischen Verlage Kali for Women (1984) und Zubaan (2003). Sie engagiert sich seit Langem in der indischen Frauenbewegung und hat sowohl akademische als auch literarische Bücher veröffentlicht. Den vorliegenden Text schrieb sie für das Festival des Goethe-Instituts in Berlin „Frequenzen – ­Feminismen“.

Weitere Diskussionen und Rede­beiträge sind in der Mediathek unter www.goethe.de/frequenzen abrufbar.

Aus diesem Aktivismus, der durch das Land fegte, wurde die zeitgenössische feministische Bewegung geboren. Viele Frauen, die Teil progressiver Bewegungen waren, begannen die Widerstandskraft der patriarchalen Strukturen innerhalb dieser Bewegungen zu hinterfragen. Wie kam es, dass ihre Genossen und Kollegen, alles aufgeschlossene, fortschrittlich denkende Männer, nicht merkten, wie sie die Diskriminierung weiter fortschrieben? Warum kamen ihnen diese Fragen nicht in den Sinn?

Die Frauen in der Landrechtebewegung in Bihar beispielsweise stellten fest, dass sie zwar an der Seite ihrer Männer gekämpft hatten, um Land für die Landlosen zu sichern, die Männer jedoch davon ausgingen, dass das Land, sobald es gewonnen worden war, nur an sie gehen würde und nicht an die Frauen. Letztendlich gelang es den Frauen durch hartnäckiges Hinterfragen und mit Strategie jedoch, wenigstens einen Teil des Landes in ihrem Namen zu erhalten.

Warum waren patriarchale Strukturen so widerstandsfähig? Welche Strukturen verliehen ihnen in unseren Gesellschaften eine derart solide Grundlage? Fragen wie diese brachten städtische und ländliche Frauen – Feministinnen, auch wenn viele von ihnen sich nicht so genannt haben mögen – in Gesprächen und Kampagnen zusammen, die sich auf das Leben von Frauen konzentrierten.

Die Kasten- und die Klassenfrage

Unsere Kampagnen befassten sich mit Gewalt gegen Frauen, insbesondere Vergewaltigung und sexueller Gewalt, aber auch anderen Formen von Gewalt, mit weiblichen Körpern und weiblicher Gesundheit, politischer Teilhabe, Religion, religiöser Identität und so vielem mehr. Allmählich wurden Sexualität und sexuelle Identität zu einem häufig diskutierten Thema, weil lesbische Frauen (das Wort queer war damals noch nicht so verbreitet) Fragen zu ihrer Sichtbarkeit aufwarfen; die Kaste kam ins Gespräch, als Frauen am unteren Ende der Kastenleiter die Vorherrschaft der Oberklassen- und Oberkasten-Frauen in der Bewegung infrage stellten.

Die Kraft unseres Aktivismus trieb uns voran und interne Herausforderungen zwangen uns, auf Fragen von Repräsentation, Macht, Handlungsmacht und so vielem mehr innerhalb der Bewegung aufmerksam zu werden.

1988 fand Sharifa Khanum, eine muslimische Frau aus Tamil Nadu, bei einer Konferenz der Frauenbewegung im biharischen Patna Arbeit als Übersetzerin. Als sie den Frauen zuhörte, wurde ihr etwas bewusst, das sie nie zuvor für möglich gehalten hatte. Hier waren Gruppen von Frauen, die öffentlich über häusliche Gewalt sprachen und ihre Erfahrungen teilten.

Über die eigenen vier Wände hinaus

Ihr wäre das nie in den Sinn gekommen, denn ihr war stets beigebracht worden, dass solche Diskussionen nicht über die eigenen vier Wände hinausdringen sollten. Sharifa Khanum war von den Geschichten so inspiriert, dass sie nach ihrer Rückkehr in ihren Heimatbundesstaat Tamil Nadu eine informelle, rein weibliche Gemeindeverwaltungsstruktur einrichtete, um Frauen bei ihren Problemen zu helfen. Heute hat die Organisation Muslim Women’s Jamaat, die sich in Bezug auf ihre Struktur durch den Koran legitimiert, über 25.000 Mitglieder und ist das Sicherheitsventil im Leben zahlreicher ärmerer Frauen in Tamil Nadu.

Sharifa Khanums Geschichte ist nur eine von vielen: Es gibt Tausende andere, von Landfrauen, häufig armen und unterkastigen Frauen, die sich womöglich nicht als Feministinnen bezeichnen (weil es in Bezug auf den Begriff viele Zweifel gibt und er häufig als westlich betrachtet wird), deren Aktivismus und Lebenserfahrung jedoch das sind, was die Frauenbewegung in Indien gestärkt hat. Es sind diese Geschichten, die dazu beigetragen haben, den indischen Feminismus zu der reichhaltigen politischen Ideologie zu machen, die er heute ist.

In jüngerer Zeit wuchs und entwickelte sich der Feminismus in Indien auf vielerlei Art: Es gibt heute im ganzen Land neue Generationen jüngerer Feministinnen, die unterschiedliche Wege gefunden haben, ihren Feminismen Geltung zu verschaffen; das Internet hat eine andere Art der Mobilisierung und Gemeinschaftsbildung ermöglicht, während öffentliche Räume gleichzeitig für Proteste immer stärker eingeschränkt werden, indem der Staat Bedingungen festlegt, die öffentliche Proteste erschweren.

Trotzdem ist es keineswegs so, als seien die Straße und der öffentliche Protest aufgegeben worden. Zwei der wichtigsten jüngeren Protestaktionen, die Tausende von Frauen auf die Straße trieben, waren die Proteste gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz, das die Staatsbürgerschaft für Minderheiten in Nachbarländern nur auf der Basis der Religion zugänglich machte und Mus­li­m*in­nen außen vor ließ; die andere waren die ein Jahr anhaltenden Bauernproteste, bei denen Tausende von Frauen demonstrierten, öffentliche Räume besetzten und Traktoren fuhren, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Gefängnis riskiert

Bei beiden Protesten demonstrierten Frauen außerordentlichen Mut und wurden dafür auch bestraft, etwa indem junge Frauen aufgrund sehr strenger Rechtsvorschriften ins Gefängnis kamen, die sogar eine Kaution schwierig machten. Auch wenn manche von ihnen mittlerweile freigelassen wurden, bleiben andere selbst mehrere Jahre nach ihrer Festnahme im Gefängnis und eine Kaution wurde ihnen wiederholt verweigert.

Was haben diese Realitäten mit dem allgemeinen Bild von Indien als einem der „gefährlichsten Länder für Frauen“ weltweit und Delhi als der „Vergewaltigungshauptstadt der Welt“ zu tun? Der indische Feminismus ist komplex und vielfältig. Wir haben auf dem Papier einige hervorragende Gesetze – die hauptsächlich aufgrund des Drucks von Frauenbewegungen geschaffen wurden –, aber die Realitäten vor Ort sehen anders aus. Frauen haben beeindruckende Institutionen aufgebaut – man nehme beispielsweise die Sewa-Bank, das womöglich wichtigste Frauen-Bankinstitut der Welt – und dennoch sind wir in den Vorständen kaum vertreten.

Kein Bild kann wahrheitsgetreu sein, wenn es nie vollständig ist. Und das trifft auf viele Berichte zu, die nur den negativen Teil des Lebens indischer Frauen sehen.

Es ist weltweit kein Geheimnis, dass aus der größten Unterdrückung der größte Widerstand erwächst, und wir sind da keine Ausnahme. Gerade weil es für indische Frauen so viel Negatives gibt, gibt es auch so vieles, was im indischen Feminismus und in unseren Frauenbewegungen stark ist.

Daher ist es wichtig, nicht nur auf die Themen zu schauen, deren sich Frauen angenommen haben, auf die größeren Bewegungen, an denen sie teilgenommen haben, sondern auch darauf, wie sie versucht haben, die Einsichten von der Straße am Arbeitsplatz einzubringen, um Arbeitsstätten und Aktivismus zu verändern.

Diese beiden parallelen Stränge – Protest und struktureller Wandel – sind es, die die indische Frauenbewegung in jüngerer Zeit motiviert haben. Sie sind es, die dieser Bewegung das Feuer in ihrer Seele verleihen.

Aus dem Englischen von Elisabeth ­Meister

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