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Fehlende digitale BarrierefreiheitOnlineshops haben zu viele Hürden

Die Hilfsorganisation Aktion Mensch und Google haben Onlineshops getestet. Das Ergebnis sei „ernüchternd“. Die meisten sind nicht barrierefrei.

Der Kaufabschluss ist oft nicht möglich Foto: Andreas Warnecke/dpa

Berlin taz | Vier von fünf Online-Shops in Deutschland sind nicht barrierefrei. Das sagt der Testbericht von Aktion Mensch und Google, der die 71 größten Onlineshops Deutschlands auf digitale Barrierefreiheit getestet hat und heute in Berlin vorgestellt wurde.

Hürden verstecken sich nicht im Detail. Schon Auswahl und Kauf eines roten Kleides in der passenden Größe sei – ohne Benutzen der Maus – online schwer möglich, berichtet Sophie Geiken. Sie ist eine der Expert*innen, die die Onlineshops getestet haben, und selbst körperlich oder kognitiv beeinträchtigt sind. Geiken ist Protagonistin eines der kurzen Videos, die in Kürze online gehen, und Hilfestellung bei der Beseitigung digitaler Hürden leisten. Gerade für Menschen, die schlecht oder gar nicht sehen können, seien Bedienungshilfen wie die Maus das falsche Instrument. Online-Shops böten zwar oft Umwege über die Tabulatur-Taste – aber gerade mit der könne man die passende Kleidergröße selten auswählen.

Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, sieht im Fehlen digitaler Barrierefreiheit ein „massives Exklusionsrisoko“. Auch Christina Marx von der Aktion Mensch nennt die Ergebnisse „ernüchternd“: Im Vergleich zum Vorjahr schnitten die Shops noch schlechter ab. Gerade einmal 15 der 71 getesteten Onlineshops erfüllen die Mindestanforderung digitaler Barrierefreiheit: „Bedienung durch Tastatur möglich“. 56 Shops scheiterten demnach bereits an der ersten Hürde und fielen durch.

Ab Juni 2025 sind digitale Hürden keine Option mehr: Als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wird der European Accessibility Act (EAA) ins nationale Recht überführt und Unternehmen, die die Vorgaben nicht erfüllen, sanktioniert. Das Gesetz verpflichtet Digitaldienstleister, ihre Angebote auf digitale Barrierefreiheit – eigentlich Kernkompetenz der usability – zu prüfen und an die Vorgaben anzupassen. Das Gesetz gilt für alle Digitaldienstleister, ausgenommen sind nur kleine Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Umsatz unter zwei Millionen Euro. Bei Nichterfüllung drohen Strafen bis 100.000 Euro.

Unternehmen wird geholfen

Unabhängig vom Gesetz sei aber wichtig, dass Unternehmen verstehen, dass Barrierefreiheit ureigene betriebswirtschaftliche Interessen beträfe, appelliert Dusel. Rund 12.5 Millionen Menschen hierzulande seien beeinträchtigt, acht Millionen davon schwer. Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung leben diese Menschen aber nicht „im Heim und geben kein Geld aus.“ Nur rund 800.000 der Betroffenen bezögen Sozialleistungen vom Staat. Unternehmen gäben viel Geld aus, um neue Zielgruppen zu erschließen. „Warum dann gut ein Zehntel der Bevölkerung vom Einkauf ausschließen?“, kritisiert Dusel.

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat Deutschland bereits 2009 ratifiziert, hier gehe es also um keine „Charity-Veranstaltung“ oder „etwas Nettes, was wir tun“, betont Jürgen Dusel. Im Zuge der Digitalisierung im Nachhinein zu merken: „Die ist nicht barrierefrei!“ ist keine Option. Neben der tiefen sozialen Dimension, sei Digitale Barrierefreiheit eben auch „Qualitätsstandard moderner Infrastruktur“. Dusel, selbst stark in seiner Sehkraft beeinträchtigt, stößt noch auf viele Hürden: „Versuchen Sie doch mal, mit geschlossenen Augen einen Geldautomaten mit Touchscreen zu bedienen“.

Hilfe stehe bereit sagt Michael Wahl, Leiter der Überwachungsstelle für Barrierefreiheit und Informationstechnik des Bundes. Die Stelle berät neben dem öffentlichen Sektor auch Unternehmen hinsichtlich Barrierefreiheit. Hohes Potenzial bietet laut Wahl die Künstliche Intelligenz: Wollten anspruchsvollere Dienste in Anspruch genommen werden, wie die barrierefreie Darstellung von Graphen oder Schaubildern, helfe die Tab-Taste selten. Es herrscht aber Informationsfreiheit – die muss also auch digital barrierefrei garantiert werden.

Gerade mal zwölf der untersuchten Onlineshops seien soweit barrierefrei, dass die meisten Tes­te­r*in­nen sie nutzen konnten. In Richtung der anderen ist der Appell klar: „Fangt nicht erst in einem Jahr an, euch das anzuschauen!“. Digitale Barrierefreiheit zu gewährleisten, sei weder schwer noch teuer – wenn die Barrierefreiheit bei der Programmierung auch mitgedacht wird.

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2 Kommentare

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  • 2014: 1671 Gesetze mit 44.216 Einzelnormen, 4000 Bauvorschriften



    2024: 1792 Gesetze, die aus insgesamt 52.155 Einzelnormen, 20000 Bauvorschriften



    Und da wundert man sich über die Abwanderung von Unternehmen ins Ausland.

  • "Ab Juni 2025 sind digitale Hürden keine Option mehr: Als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wird der European Accessibility Act (EAA) ins nationale Recht überführt und Unternehmen, die die Vorgaben nicht erfüllen, sanktioniert."

    Ja wahnsinn - das wars dann wohl mit den Treueschwüren der Politiker Bürokratie abzubauen.



    Wie soll ein kleines start-up Unternehmen in dem immer dichter werdenden Regulierungsdschungel sicherstellen, dass es alle Vorgaben einhält.



    Ich würde wirklich mal gerne einen der verantwortlichen Politiker über all die CE-Regulierungen befragen. Ich bin mir sicher, dass da so gut wie keine Kenntnisse vorliegen. Diese alleine untergliedern sich ja schon in 12 Einzelregulierungen von denen jede Einzelne ein gewaltiges Buch darstellt. Jedes dieser "Bücher" wurde daraufhin in eine Menge separater nationaler Gesetze überführt.



    Wenn die gesetzgebenden Politiker da nicht mehr durchblicken - wie will ein einzelner Unternehmensgründer sicher gehen, dass er keinen Rechtsbruch begeht.



    Und jetzt noch diese neue Regel!



    Das ist reine Wirtschaftsverhinderungspolitik - sonst nichts!