Fast eine Weihnachtsgeschichte: Siemens droht, Görlitz flackert
Das Christfest naht, die Stadt strahlt. Wäre da nicht dieses unglaubliche Verdikt aus München: Siemens will sein Werk tief im Osten schließen.
Die Altstadt hat schon Filmgrößen angelockt wie Bill Murray und Kate Winslet. Wer nach Görlitz mit seinen 55.000 Einwohner kommt, und sei es nur für einen Tag, der ist dem Zauber der Stadt erlegen. Schade, dass es ausgerechnet Joe Kaeser nicht mehr schaffen wird. Wo er sich nun doch aufgerafft hat. So kurz vor dem Fest, um sich mit den Siemensianer auszusöhnen. Wenigstens ein bisschen.
„Der Herr Kaeser war nie in Görlitz“, hat Anneliese Karst noch vor ein paar Tagen gesagt und die Hände an ihrem Teeglas gewärmt. Im Café, etwas abseits vom Trubel, könnte man sich in Ruhe unterhalten. Draußen schaukeln Herrnhuter Sterne unruhig im Wind und weisen den Weg in die Altstadt. In der anderen Richtung, keine sieben Minuten Fußweg von hier, liegt das Siemens-Werk, wo 900 Beschäftigte einer gut bezahlten Arbeit nachgehen. Noch nachgehen, Siemens hat im November angekündigt, das Werk binnen fünf Jahren zu schließen.
Bei 372.000 Mitarbeitern, verstreut über so ziemlich jedes Land der Erde – was ist da eine Fabrik in der östlichsten Stadt Deutschlands, und sei diese noch so schön? Ein Klecks. Ein Klecks, der weg soll. Nein, nicht dass es im Café Kretschmer Kleckse auf den Vitrinen gäbe oder gar Fliegenschisse. Das Glas ist blitzblank poliert und darunter türmen sich Stollen zu einem zuckersüßen Gebirge, aus dem nur schwarzglänzende Rosinen lugen. „Mit dem Herrn Kaeser ist solche Politik reingekommen“, sinniert Karst und kann es nicht fassen. Will der sechzigjährige Manager aus München in Görlitz tatsächlich das Licht ausblasen?
Die Visite: Eine Kehrtwende ist es nicht, was Joe Kaeser nach seinem Blitzbesuch am Dienstag im Siemens-Turbinenwerk in Görlitz ankündigte, doch der Siemens-Chef war beeindruckt von der Belegschaft, lobte deren Leistungswillen, versprach, nach einer Lösung zu suchen und äußerte sich nach der Betriebsversammlung selbstkritisch: „Es wäre echt schade, wenn dieser Standort verloren ginge, nur weil uns nichts Gutes gemeinsam einfällt.“
Die Ankündigung: Siemens hatte im Oktober angekündigt, dass es in der Sparte „Power and Gas“ zu Einschnitten kommen werde. So soll das Görlitzer Werk mit seinen rund 900 Beschäftigten binnen fünf Jahren geschlossen werden. Kaeser verwies auf den hart umkämpften Turbinen-Markt, der zu einem deutlichen Preisverfall geführt habe. Zugleich versprach er, gemeinsam mit der sächsischen Landesregierung und dem Bund nach Lösungen zu suchen, und sagte: „Es gibt eine Verantwortung deutscher Eliten, dass wir die Region nicht alleine lassen.“
Die Hoffnung: „Grundlegend positiv“, nannte Ronny Zieschank vom Siemens-Betriebsrat die Visite Kaesers. „Ich hoffe, er rechnet noch einmal nach.“ Kaeser, der nach der Versammlung noch mit dem Görlitzer Oberbürgermeister Siegfried Deinege sprach, will sich „zeitnah“ auch mit dem neuen sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer treffen. thg
Seine Vorgänger seien anders gewesen. Heinrich von Pierer, Klaus Kleinfeld, Peter Löscher – jeder war einmal „Mr. Siemens“, jeder hat bei dem Werksgelände an der Lutherstraße vorbeigeschaut. Vor den Turbinen haben sie sich ablichten lassen. PR-Zirkus. Aber so etwas wie Wertschätzung war eben auch zu spüren. Nur Herr Kaeser ließ sich nicht blicken. Auch der im Jahr 21015 eingesetzte Werksleiter ist wohl nicht allzu häufig in Görlitz anzutreffen, wie Anneliese Karst vermutet. Und so wurde den Görlitzern die beabsichtigte Werksschließung per Videoschalte aus der Münchener Konzernzentrale durchgegeben, gerade so als hätten sie die Tuberkulose.
„Ich muss sagen, dass ist im Umgang mit den Menschen …“ Anneliese Karst bricht ab, überlegt: „Es gibt ja viele Probleme, der Osten hat bei Siemens keine Lobby und in der Bundesregierung auch nicht.“ Karst bleibt freundlich. Helles, blondes Haar, helle Stimme, die manchmal stockt, doch sie behält diesen herzlichen Klang. Karst beugt sich über den Tisch. „Es ging im Werk immer auf und ab.“ Ihre Hand beschreibt eine Welle. Entlassungen gab es schließlich auch schon früher. „Aber der Gedanke, dass es Siemens nicht mehr geben wird, den habe ich nie gehabt.“
Wenn man Anneliese Karst so zuhört, scheint es, als ob es Siemens zweimal gäbe: einmal das Joe-Kaeser-Siemens, in Divisionen zerlegt und auf Börsenkurs getrimmt, und einmal das Traditionsunternehmen Siemens mit selbstbewussten „Siemensianern“ als Rückgrat. „Ich war immer stolz darauf, bei Siemens zu arbeiten“, sagt Anneliese Karst. Sie ist jetzt siebzig Jahre alt, 46 davon hat sie im Turbinenwerk gearbeitet, hat die sozialistische Planwirtschaft erlebt und überwunden, hat den Einzug der Marktwirtschaft gestaltet, die für die Arbeiter des VEB Görlitzer Maschinenbaus, die von Siemens übernommen wurden, tatsächlich eine soziale wurde.
„Ich hab’ gesagt, wir sind adlig.“ Es klingt fast verschämt. Das Aristokratische lag nicht am Firmenchef Heinrich von Pierer, sondern am sicheren Job und am Tariflohn. Siemens – das war im hintersten Zipfel der alten DDR der Beweis, dass der Kapitalismus, diese „faulende Gesellschaftsordnung“, eben doch gezähmt werden kann zum Wohle des Menschen, jedenfalls in Traditionsunternehmen aus Deutschland. Anneliese Karst hat 1967 im Materiallager des VEB Görlitzer Maschinenbau begonnen. Als Siemens das Werk 1992 übernahm, baute sie die Logistikabteilung auf. Wenn ein 250-Tonnen-Trumm durch das Werkstor rollte, lag die Organisation in ihrer Hand.
Nachhilfeunterricht: Turbine ist nicht gleich Turbine
Karst zückt ihr Handy, zeigt ein Foto. „Das ist eine Industriedampfturbine und keine Gasturbine.“ Dieses Detail ist ihr wichtig. Anders als Gasturbinen sind die kleineren Dampfturbinen nicht aus der Mode. Überall, wo in der Industrie Dampf anfällt, in Zucker- und Papierfabriken, in Meerwasserentsalzungsanlagen, lässt sich der Dampf in Strom verwandeln. Und natürlich in Biomassekraftwerken und Solarthermieanlagen, so wie es die Energiewende verlangt. Diese aber bringen die Siemens-Oberen als Schließungsgrund vor, weil die Nachfrage nach Turbinen sinke. Bei Gasturbinen mag das stimmen, bei Dampfturbinen aus Görlitz nicht.
Es gab Jahre, da haben 45 Turbinen das Siemens-Tor passiert. Görlitz steigt zum Weltmarktführer auf und wird im Siemens-Kosmos zur „Lead Factory“ für Dampfturbinen. Görlitz ist nicht bloß Werkbank, sondern die Zentrale für diesen Bereich mit Forschung und Entwicklung – im Osten immer noch eine Rarität. „Es gab ein ganz anderes Verhältnis zu den Westdeutschen“ erinnert Karst. „Man war auf Augenhöhe.“ Mehr noch, die Kollegen im Westen haben über den Osten gestaunt und über seine Frauen. Etwa als sie merkten, dass Anneliese Karst, die drei Kinder großzog, eine ganze Abteilungen führt.
Die Schließung als Strafe für den AfD-Sieg in Görlitz?
Karst lacht, legt ein Zuckerstück auf den Löffel und versenkt ihn im Tee. Nein, sie schüttelt den Kopf, das Café Kretschmer hat nichts mit Michael Kretschmer zu tun, der aus Görlitz stammt und vergangene Woche zum sächsischen Ministerpräsidenten aufgestiegen ist. Dabei hatte Kretschmer erst im September sein Direktmandat an einen Malermeister verloren, der für die AfD kandidierte. Fast 33 Prozent hatten im Wahlkreis Görlitz für die AfD gestimmt. Kretschmer schien politisch abgemeldet. Jetzt soll der Mann mit dem Jungengesicht und den traurigen Augen nicht nur das Werk, sondern am besten ganz Görlitz retten mit seinem über 12 Prozent Arbeitslosen. Irgendwie.
Sollte die Entscheidung, Görlitz zu schließen, etwas mit der AfD zu tun haben? Anneliese Karst hält kurz inne. Sie kann diesen Gedanken, den sie da gerade ausspricht, selbst kaum fassen. „Die Siemensianer haben bestimmt nicht …“ Nein, das ist keine AfD-Klientel, ist sie sicher. „Und das AfD-Ergebnis in Bayern war ja auch nicht klein.“
Sie ist noch in Gedanken versunken, da steht plötzlich eine Frau vor ihr. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe das am Nachbartisch mitbekommen, was Sie zu Siemens sagen.“ Eine Katastrophe sei das. Mehr als 6 Milliarden Euro Gewinn und dann das? Sie hat die Arme angriffslustig in die Himmelsrichtung gereckt, wo sie den Siemens-Vorstand vermutet. „Alles nur wegen des höheren Profits. Die haben doch einen Klaps!“ Für einen Augenblick wird es eng vor der Vitrine mit den Stollen und auch ein wenig ungemütlich. Anneliese Karst nickt still. Dann lädt die Dame zur ökumenischen Andacht für das Siemens-Werk ein und geht hinaus. Das Café Kretschmer – es ist zur Protestbühne geworden.
Jugendstil und Schlesisches Himmelreich
Am Postplatz beginnt die reale Görlitzer Märchenwelt. Das Jugendstilkaufhaus, 2013 für ein paar Wochen das „Grand Budapest Hotel“ für’s Kino, ist zwar geräumt, aber selbst dieser Leerlauf scheint dem Prachtbau nichts anzuhaben. Von drinnen grüßen ein paar Sterne wie aus einem luftleeren Raum. Daneben die Frauenkirche, von den Altstadtmillionen restauriert, die ein anonymer Wohltäter 21 Jahre lang über Görlitz hat regnen lassen. Mit dem Manna wurden Renaissancehöfe, Bürgerhäuser, Kirchen, Gewölbe und ein Friedhof restauriert. Die Stadt, zu DDR-Zeiten selbst nicht mehr als ein Friedhof, ist zu neuem Leben erwacht.
Jetzt sowieso. Jede Tür, jeder Laden – auf dem Pflaster funkeln Sternchen, Menschen flanieren, Musik liegt in der Luft. Ein Gasthaus offeriert „Schlesisches Himmelreich“, ein anderes hausgemachte Piroggen mit Entenfüllung, ein Bäcker „Liegitzer Bomben“, Weihnachtsgebäck aus Schlesien. Hinter jeder Tür, in jedem Fenster eine Überraschung. Polnische Händler verkaufen Engel aus Glas, Bigos und Bunzlauer Keramik. Der Osten ist hinter jedem Fenster präsent. Jetzt müsste nur noch Tschaikowskis Nussknacker wirbeln, man hätte Siemens glatt vergessen.
Anneliese Karst
Zwei solcher lebensgroßen Gesellen stehen in der Fleischerstraße stramm und locken Besucher in das „Weihnachtshaus“, die sich in den verwinkelten Gängen schnell verlaufen. Nebenan läuft Eva Wittig eine Steintreppe hinauf. Unter einer bemalten Balkendecke lässt sie sich fallen. Solche antiken Decken sind hier völlig normal, sagt sie. Das Drama um Siemens vergessen zu machen, ist auch ihre Mission.
Dabei müsste Eva Wittig nur zaubern können. „Wir müssten die Stadt in die Mitte stellen“, sagt sie, macht eine Armbewegung, als würde sie ein Kästchen verschieben, und lacht. Hinein in die Mitte von Deutschland. Das Manko von Görlitz hat noch keiner so liebenswürdig beschrieben wie sie. Würde Görlitz irgendwo im Hessischen liegen oder im Harz, alle Sorgen wären wie weggeblasen. Denn Görlitz – das ist wie Heidelberg, wie Rothenburg ob der Tauber, sagt Wittig. „Nur echter!“ Leider auch abseitiger.
Es ist Eva Wittigs Beruf, die Stimmung aufzuhellen und sie hat auch das Naturell dazu. Wittig arbeitet bei der Europastadt GörlitzZgorzelec GmbH, einer Gesellschaft der Stadt und geschaffen, um Tourismusmanagement, Wirtschaftsförderung und Standortmarketing aus einer Hand anzubieten. Das sind die drei Räder, auf denen Görlitz in die Zukunft rollen soll. Das vierte Rad aber müsste die Wirtschaft anschrauben.
Nicht wenige glauben hier, dass die Randlage der wahre Grund ist, warum Siemens die Koffer packen will. Die Bahn braucht mit ihren Regionalzügen – andere fahren nicht – von Dresden immer noch so lange wie die Deutsche Reichsbahn der DDR. Görlitz liegt an der Peripherie so wie auch der bayrische Flecken Arnbruck direkt an der tschechischen Grenze. Arnbruck? Der Betriebswirt Josef Käser wurde dort geboren. Er wird in den Neunzigern von seiner Firma in die USA geschickt. Fünf Jahre bleibt er im Silicon Valley, macht Karriere und als er zurückkommt, nennt er sich nur noch Joe Kaeser. In Arnbruck sollen sie ihn noch Sepp rufen. Eigentlich müsste Kaeser die Görlitzer besonders gut verstehen.
Kein schlechtes Wort über den Großkonzern
Nein, von Eva Wittig kommt kein schlechtes Wort zu Siemens über die Lippen. Als Marketingexpertin ist sie viel zu versiert. Zudem ist ihr Mann „Siemensianer“, er pendelt bereits seit über zwei Jahren in das Siemens-Werk nach Mülheim an der Ruhr, wo viele Görlitzer einmal arbeiten sollen. Nein, leicht ist das nicht, sagt Wittig knapp. Für klare Worte ist überdies Oberbürgermeister Siegfried Deinege da. Das Görlitzer Werk werde geschlossen, mutmaßte Deinege, weil hier, tief im Osten, der politische Widerstand genauso dürftig ausfallen würde wie die Höhe der Abfindungen.
„Natürlich werden wir um das Werk kämpfen“, sagt Eva Wittig. Siemens zu ersetzen, werde schwer fallen, räumt sie ein. Unmöglich scheint das jedoch nicht. „Wir haben verstärkt Anfragen von Unternehmen“, sagt sie. Gute Arbeitskräfte sind gefragt. Dann listet sie auf, welche Firmen sich in den letzten Jahren angesiedelt haben, darunter ein innovatives aus der Schweiz, viel Kreativwirtschaft und aus der IT-Branche.
Familien aus Polen ziehen in die Stadt, in den Grundschulen wird Polnisch angeboten. Die Altstadt muss sie nicht extra preisen, aber dass Görlitz im November den European Location Award für seine einmalige Filmkulisse erhalten hat, das muss sie noch loswerden.
Die Touristenzahlen sind in diesem Jahr wieder gestiegen. Man muss eben das Beste rausholen, sagt Eva Wittig und lächelt. Um das Image von Görlitz muss sich keiner Sorgen machen. Anders steht es da schon um Siemens.
Das dämmert inzwischen auch der Konzernzentrale in München. Fünfzig Siemensianer sind am Dienstag in die bayrische Landeshauptstadt aufgebrochen, um dem Siemens-Chef ein paar Weihnachtslieder zu singen. Dabei hätten sie bloß in der Lutherstraße zu warten brauchen. Gegen Mittag rollt eine Limousine auf den Hof. Zwei Stunden dauert die Betriebsversammlung, dann tritt Joe Kaeser vor die Kamera. Er redet vom heftigen Preisverfall bei Turbinen, vom Wettbewerb, der schneller, rücksichtsloser und dramatischer geworden ist. Kaeser bedauert die Pannen bei der Kommunikation und er appelliert an die Verantwortung der deutschen Eliten. Görlitz und die Oberlausitz werde man nicht im Stich lassen.
Selten hat man Konzernlenker so nervös gesehen. Die Simiensianer haben ihm wohl den Unterschied zwischen Gas- und Dampfturbine recht deutlich erklärt. Kaeser nuschelt, manchmal wirkt er fahrig. Es scheint wie ein Gang nach Canossa.
Schade, dass Joe Kaeser seinen Besuch nach all der Anspannung nicht mit einem Spaziergang über den Schlesischen Christkindelmarkt ausklingen lassen konnte. Der Markt hatte zwei Tage zuvor seine Tore geschlossen.
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