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Fantasy und RealpolitikMit den Augen von Tolkiens Gandalf

Es gibt Gründe, warum deutsche Autoren heimische Mythen scheuen. Dabei eignet sich das Fantasy-Genre für die kritische Betrachtung von Realpolitik.

J. R. R. Tolkiens Gandalf in einer Filmszene aus „Der Hobbit“ (2013) Foto: Mary Evans/AF Archive/New Line Cinema/Imago

D er US-amerikanische Autor und Literaturwissenschaftler Michael Weingrad ging einst der Frage nach, warum es kein jüdisches Fantasy-Genre gibt. Die Wahrheit ist: Es gibt eine jüdische Fantasy, man könnte sogar die Bibel dazuzählen. Und es gibt auch in der israelischen modernen Literatur das Genre Fantasy. Die israelischen Fantasy-Autoren beschäftigt vor allem die jüdische Vergangenheit, Geschichte und Mythos sowie die Verbindung mit der israelischen Gegenwart, mit Politik und Kultur.

Es ist eine reflektierende, kritische, oft satirische Fantasy. Im Gegensatz zu den beiden neuen Fernsehserien, die seit Kurzem auf Amazon Prime beziehungsweise auf HBO zu sehen sind, bleibt das Genre Fantasy für das israelische Publikum, wenn es auf Hebräisch ist, eher eine Randerscheinung.

Die Ringe der Macht“ – Auftakt der Tolkien-Serie, und: „Aufstieg und Fall des Hauses Targaryen“ – die Fortsetzung von „Game of Thrones“ – haben unglaubliche Geldsummen geschluckt, und die große Aufmerksamkeit, auf die sie stoßen, zeigt, welchen zentralen Platz diese Art von Serien im kulturellen Leben einnimmt.

Nun könnte man das vor allem mit dem wachsenden Eskapismus und dem Bedürfnis nach vereinfachten, „mythischen“ Formeln erklären, die die bewusste Auseinandersetzung mit der Realität ersetzt. Der Realismus des 19. Jahrhunderts und die Literatur der Moderne erfüllten eine ähnliche Funktion. Dem entgegen könnte man behaupten, dass das Projekt von Georg R.R. Martin, Autor von „Game of Thrones“, unter dem Deckmantel der Fantasy ein düsteres Bild von Machiavellismus und Realpolitik zeichnet.

Hagai Dagan

lehrt Jüdisches Denken am Sapir College in Sderot und ist Autor vieler Sachbücher und Romane. Auf Englisch erschien im Mai sein Spionagethriller „The March Angel“.

Trügerische Magie und Skepsis

Es ist eine Mischung aus trügerischer Magie, Nüchternheit, Skepsis, Religionsverachtung und einer säuerlichen und pessimistischen Beobachtung der Realität. Die Frage ist: Warum ist der weitaus größte Teil des Fantasy-Genres der letzten 200 Jahre im angelsächsischen Raum entstanden? Wo ist die europäische Fantasy-Literatur und was ist mit der deutschen? Die Antwort liegt auf der Hand.

Die Deutschen setzen sich nur ungern mit mythischen Stoffen ihrer eigenen Kultur auseinander: Künstler wie Richard Wagner schufen eine brisante Verbindung zwischen dem nordisch-deutschen Mythos und der Romantik und der deutschen Kunst. Die SS und andere nationalsozialistische Organisationen griffen diese Stoffe auf, manipulierten sie, um einen neu-alten germanischen Mythos zu schaffen, der ideologischen Interessen, aber auch einer neuheidnischen Faszination diente.

Nach 1945 entstand aus verständlichen Gründen ein enormer Widerwillen gegen diese Verbindung. Tolkien konnte es sich erlauben, Traditionen über Trolle wiederzubeleben, und J. K. Rowling konnte sich mit Kobolden amüsieren. Für deutsche Autoren hingegen blieb die deutsche mythische, vorchristliche Vergangenheit tabu. Auch ein Werk wie „Der Butt“ von Günter Grass wendet sich kaschubischen Mythen zu und nicht dem deutschen Mythos.

Die von Martin vorgegebene Richtung, die raffinierte Mischung aus mythischen und magischen Stoffen und einem düsteren und nüchternen Blick auf die Realität, könnte den Deutschen als eine Art Kaninchenbau dienen, durch den sie zurückkehren und aus dem sie die Nibelungen, die Wotans und die Walküren beobachten. Durch diese Art von kritischen Fantasy-Stoffen kann eine Verbindung geschaffen werden zu den Traditionen der Vergangenheit, ohne ihnen zu verfallen.

Versuche, eine solche reflexive Fantasy zu schaffen, wurden auch in der israelischen Literatur unternommen, teils mit größerem, teils mit geringerem Erfolg. Aber schon die bloße Existenz solcher Versuche ist von kultureller Bedeutung.

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10 Kommentare

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  • Wolfgang Hohlbein lesen. Nicht, dass das große Literatur wäre, aber mit George RR. Martin oder J.K. Rowling, beides maßlos überschätzte Autoren, kann er locker mithalten. Aber bitte keine deutschen Stoffe!



    Warum? Kennen Sie nationale Mythen anderer Länder & Völker? Da reiten fesche Prinzen auf fliegenden Pferden zur Rettung der Prinzessin. Und unser nationaler Mythos? - Sitzt ein gaaaaaanz alter Mann in einem tiiiiiefen Berg. Und er sitzt da schon so laaaaange, dass sein Bart (der bestimmt total verfilzt & voller Ungeziefer ist, pfui!) DURCH DEN TISCH HINDURCHGEWACHSEN ist. Und weil er also nicht mehr selbst aufstehen kann, schickt er alle 100 Jahre einen Gnom auf Ausschau, ob seine Stunde vielleicht doch gekommen ist. Wenn die Raben wieder um den Berg kreisen. Oder nicht kreisen. Und wenn der Berg kreist, gebiert er einen schimmeligen Greis? Wer braucht so etwas?

  • Ich bin kein großer Freund von „Fantasy“ – dies gleich ehrlich zu Beginn.



    Aber zu den Nebenthemen habe ich doch zwei Anmerkungen:



    „… und die große Aufmerksamkeit, auf die sie stoßen, zeigt, welchen zentralen Platz diese Art von Serien im kulturellen Leben einnimmt.“



    – Äh, kann es sein, dass die Aufmerksamkeit mit dem vielen, vielen Geld erzeugt wird, mit dem diese Serie(n) erzeugt werde(n)? – Nicht umsonst nennt man solche Erzeugnisse heutzutage nicht mehr „Film“ oder „Serie“ – oder gar „Kunstwerk“, sondern „Franchise“.



    Und viele, viele Medien nehmen in dem immer weiter steigenden Hunger nach „Nachrichten“ so etwas auf und sind nurmehr Multiplikatoren der Maschinerie. Ich weiß, den Gedanken habe ich nicht gerade als erster gehabt, aber lasst uns das Tausendmal Gesagte immer und immer wiederholen…



    Und dass der Realismus und die Moderne im 19. und 20. Jh. eine „ähnliche Funktion“ hätten „…dem Bedürfnis nach vereinfachten, „mythischen“ Formeln zu entsprechen, das halte ich schon für eine abenteuerliche Behauptung.



    Ich glaube, Zola, Brecht, Gorki, Bulgakow, Lewis (die Liste lässt sich beliebig fortsetzen) wären sicher anderer Meinung…

  • 0G
    04405 (Profil gelöscht)

    Es besteht mMn keine Kontinuität von Fantasy-Literatur und den Sagen und Mythen des Vormittelalters, jedenfalls keine ungebrochene.

    Für Tolkien und seine "Merry-Old-England" Fantasien mag das so gegolten haben - aber Fritz Leiber und spätestens Spinrad/Moorcock/LeGuin und ihre "New Wave" nehmen höchstens Anleihen aus den Mythen für ihre klar postmodernen Werke, so wie aktuell Gaiman.

    Dass die deutsche Literatur kaum nennenswert Fantasy produziert hat - wobei Ende und Funke das auch schon teilweise widerlegen - liegt wohl eher an der strikten Trennung von "E" und "U" im Feuilleton, mit schwierigem Verhältnis zum Schmuddelkind "U". Die Angelsächsische Welt tut sich bedeutend leichter, Beatles, Melmoth, Dorian Gray und Jerry Cornelius mit gleicher Unvorgenommenheit zu würdigen.

    Gaiman und Spinrad sind übrigens tatsächlich jüdischer Herkunft, ohne dass das für ihre Werke eine Rolle spielen würde. Der Begriff "jüdische Fantasy" ist deswegen "schwierig" und mindestens irreführend.

    • @04405 (Profil gelöscht):

      Right. But - labeling sales & - verkleistert das Denken. Woll.

  • Dass der Bereich Fantasy so ist, ist tatsächlich eine Art Eskapismus von der Realität. Fanatsy beinhaltet einfache Erklärungen und oft ein klares Gut/Böse bzw. Schwarz/Weiß Muster.



    Da wo keine Erklärungen mögich sind, wird halt alles mystisch und hat was mit Magie zu tun.

    Nun würde es wohl zu weit führen zu sagen, dass Fantasy-Fans mit der Realität nicht klarkommen und Verschwörungstheorien und anderen einfachen (rechten) Erklärmustern anhängen.



    Und dennoch gibt es Parallelen. So sind es in der neuen Amazon-Serie auch vornehmlich weiße Elben die gegen dunkle Gestalten kämpfen. Diese Grunderzählung, dass eine



    edle, reine Gruppe mit Heldenmut gegen finstere Mächte antritt ist auch der Grundstoff, auf denen auch Nationalismus und Rassismus basieren. Denn Nationalisten und Rassisten



    sehen sich selbst in einem ebensolchen Kampf, in der sie selbst natürlich die Guten sind. Aus dem Grund lässt sich Fantasy auch so gut für rechte Zwecke missbrauchen. Wobei bei



    Richard Wagner, der ja glühender Antisemit war, wohl seine Zustimmung gegeben hätte.

    • @harrydus:

      Nicht zuletzt ist es immer der "Auserwählte", der die Unterdrückten in die Freiheit führt. Es gibt keine gesellschaftliche Auseinandersetzung, sonder es ist immer jemand, der die Unterdrückten in eine seltsame Art von Freiheit (gerne in eine "gute Monarcie") führt. Das lässt mich immer sehr misstrauisch werden. Ich halte nichts von Auserwählten (von wem auch immer auserwählt...)

    • 0G
      04405 (Profil gelöscht)
      @harrydus:

      Sie lassen sich in die irre führen. Tolkien ist nicht repräsentativ für Fantasy-Literatur, sondern allenfalls für eine bestimmte Schule der 1950er Jahre. Man nennt es auch "Fantasy mit Elfen".

      Das vermeintliche "gut gegen böse" Schema finden sie auch nur dort so klar. Plump gesagt sind schon bei JRR Martin alle "irgendwie böse".

  • Zu dieser Wirrnis of Fanta & Cie. - 🙀🥳



    & 🎶🎶🎶 - Blunt the Knives - 🎶🎶🎶



    m.youtube.com/watch?v=7TI44Pkp98I



    & lyriks =>



    “Can you not do that? You blunt them!



    Ooooh! You hear that?



    He said we'll blunt the knives!



    Blunt the knives, bend the forks



    Smash the bottles and burn the corks



    Chip the glasses and crack the plates



    That's what Bilbo Baggins hates!



    Cut the cloth, tread on the fat



    Leave the bones on the bedroom mat



    Pour the milk on the pantry floor



    Splash the wine on every door!



    Dump the crocks in a boiling bowls



    Pound them up with a thumping pole



    When you're finished if they are whole



    Send them down the hall to roll



    That's what Bilbo Baggins hates!“



    Indeed •

  • Daß es keine jüdische Fantasy gibt ist doch Nonsens.



    Joe Schuster, Jerry Siegel, Stan Lee, Jack Kirby, alles Juden.



    Das gesamte Genre Superhelden wurde von Juden geschaffen.



    Und mehr Fantasy als Superhelden geht nicht, auch ohne Trolle und Elben.

  • Die golem sagen sind z.b. jüdischer herkunft.



    Auf netflix gab es auch die arabische geschichte des ghoul als 3teilige horrorserie.



    Das letzte mal das explizit deutsche sagen im mainstream aufgegriffen wurde ist meiner erinnerung nach bei django unchained, auch wenn sie nicht viel mit dem orginal zu tun hat. Aber es geht ja auch um neue blickwinkel.