Familiendrama aus Belgien: Der Teufel steckt im Alltag
Der belgische Regisseur Joachim Lafosse erzählt in „Die Ruhelosen“ von einem Vater mit bipolarer Störung. Er tut das mit sensiblem Realismus.
Grund zur Beunruhigung gibt es, Anzeichen, noch keine Gewissheit: Damien am Steuer eines Motorboots fährt weit hinaus auf das Meer, sein kleiner Sohn Amine genießt die Fahrt. Da springt, ohne Ankündigung, Damien ins Wasser, ruft dem Sohn zu, das Steuer zu übernehmen, er schwimme an den entfernt liegenden Strand. Am Strand wartet Leïla, wartet, der Sohn lenkt das Motorboot ohne Probleme zurück.
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Nun warten sie auf Damien, Leïla geht auf und ab, Damien taucht nicht auf, und dann kommt er doch, schwimmt heran und sieht kein Problem. Es ist nicht klar, was eigentlich los ist, es ist nicht klar, ob es überhaupt ein Problem gibt, aber Leïla, und mit ihr der Film, und mit dem Film wir, sind gleich mit dieser ersten Szene in Unruhe versetzt, auch wenn diese Unruhe zunächst unbestimmt bleibt.
Freunde kommen zu Besuch, Serge, Damiens Galerist, hat seine kleine Tochter dabei. Übermütig, wenn nicht übergriffig wirft Damien sie zum Empfang in den Pool. Bald darauf zieht Damien im Pool seine Bahnen, erst denkt man sich nichts, dann hört er damit nicht mehr auf.
Es sind solche erst leisen, dann auch heftigeren Irritationen, mit denen Joachim Lafosse, ohne zunächst irgendwas zu erklären, die Zuschauer*in irritiert. Wasser, Gewässer, sind wieder und wieder der Schauplatz, am Meer beginnt der Film, an einem See wird er enden: Metapher für Oberflächen, die ruhig scheinen, unter denen die Unruhe jedoch lauert.
Grenzen überschreiten
Es sind keine großen Geschichten, sondern Familienszenen, die sich entfalten. Kleinfamilienszenen, Vater, Mutter, Kind, Leïla, Damien und Amine. Und nach und nach werden die Grenzüberschreitungen gravierender, man beginnt zu begreifen, dass in der Tat etwas nicht stimmt mit Damien, dass Leïla und auch Amine nicht ohne Grund aufmerksam sind.
„Die Ruhelosen“. Regie: Joachim Lafosse. Mit Leïla Bekthi, Damien Bonnard u. a. Belgien/Luxemburg/Frankreich 2021, 118 Min.
Eine kurze Szene noch im Urlaub, Leïla in einem Krankenhausflur, was hier geschieht, wird nicht genauer erklärt. Dann ist die Familie mit einem ganz beiläufigen Schnitt aus dem Urlaub zurück. Damien in seinem Studio, er malt, steigert sich ins Malen hinein. Eines Morgens schnappt er sich Amine und fährt ihn zur Schule im Dorf, Leïla hinterher, es ist eine lebensgefährliche Fahrt.
Andere Szene, kurz darauf, in der Dorfbäckerei: Damien weigert sich, Maske zu tragen, kauft im Überschwang Kleingebäck und das Tablett gleich dazu mit. Der Überschwang erweist sich nun immer klarer als manische Phase eines bipolar Kranken. Es ist nicht das erste Mal, so erklärt sich die Unruhe Leïlas schon bei den unklaren Zeichen.
Damien hat offenbar aufgehört, das ihm verschriebene Psychopharmakon Lithium einzunehmen, Leïlas Versuche, ihn unter Kontrolle zu halten, werden verzweifelter. Sie holt Damiens Vater zu Hilfe, sie ruft Sanitäter, die den Kranken aber nicht gegen dessen Willen in die Psychiatrie mitnehmen können.
Lafosse schildert all das mit Geduld und Sinn für die Nuance, dramatisiert nicht über Gebühr, sehr sparsam nur wird die Musik von Ólafur Arnalds und Antoine Bodson eingesetzt. Sie soll die Stimmung der Szenen nur unterstreichen und akzentuieren.
Erinnerungen an den eigenen Vater
Lafosse hat das Drehbuch gemeinsam mit einer Reihe Koautor*innen verfasst, er hat ganz gewiss genau recherchiert, nicht zuletzt beruht die Geschichte auf Erinnerungen an seinen eigenen bipolaren Vater. Entsprechend wird die Perspektive des Sohnes, Amine, immer wieder ins Zentrum gerückt – den Gabriel Merz Chammah mit beeindruckendem Verzicht auf jede kindliche Niedlichkeit spielt.
Ohnehin geht es aber nicht in erster Linie um die Darstellung einer Krankheit, nicht einmal, wenngleich das dazugehört, um das Porträt eines Kranken. Der Belgier Joachim Lafosse bleibt sich treu als Filmemacher, der Störungen des Zwischenmenschlichen in bürgerlichen Milieus observiert. Immer beobachtet er dabei weniger die Individuen als ihre gestörten Beziehungssysteme.
Auf der internationalen Szene tauchte er 2006 auf, als das Festival von Venedig „Nue proprieté“ im Wettbewerb zeigte: ein Drama um eine geschiedene Mutter – gespielt von Isabelle Huppert – die zu neuen Ufern aufbricht und ihre gerade erwachsenen Zwillingssöhne in eine Krise stürzt.
In seinem vorletzten Film, „Die Ökonomie der Liebe“ (2016), stand wiederum eine Familie im Zentrum, Vater, Mutter, zwei Kinder, aber die Beziehung der Eltern ist zerfallen, es gibt kein Zurück zu Liebe und Glück. Danach hat Lafosse in „Continuer“ (2018) eine Mutter und ihren 18-jährigen Sohn auf eine Reise in die kirgisische Steppe geschickt, wo sie ihr schwieriges Verhältnis in der Fremde krisenhaft neu justieren.
Einfache Lösungen bietet Lafosse niemals an, auch nicht in „Die Ruhelosen“, mit dem er es 2021 das erste Mal in Cannes in den Wettbewerb schaffte. Wichtiger noch: Es gibt auch keine simplen Beschreibungen der jeweiligen Lage. Der Teufel steckt im Alltag und seinen vielen Details.
Den Raum der Fiktion minimieren
Das Mittel der Wahl ist dabei ein auf den ersten Blick formal wenig auffälliger filmischer Realismus. Die Einstellungen sind funktional, man ist und bleibt nahe dran an den Figuren, alle Aufmerksamkeit gilt dem Spiel der Darsteller*innen, besonders ihrem Zögern, den Unsicherheiten. Das ist kein Kino der geschliffenen Dialoge oder der mitreißenden Dramaturgie, kein Plot Point wird irgendwen retten, schön verpackte Einsichten nimmt keiner aus einem Film von Lafosse mit.
Auffällig ist, dass die beiden zentralen Figuren jeweils den realen Vornamen ihrer Darsteller*in tragen: Leïla ist Leïla Bekhti, Damien ist Damien Bonnard. Der Raum der Fiktion im Sinne ausgedachter Erfindung wird so minimiert. Einerseits nach außen ein weiteres Realismussignal, andererseits auch ein Verfahren, das beim Drehen Nähe und Intimität schafft, als offener Vornamensraum für Bekhti und Bonnard.
Erst eher subkutan auffällig, dann ein einziges Mal im Dialog thematisiert: ihre Körper. Leïla trägt weite Gewänder, versteckt ihre (sehr relative, nur angedeutete) Fülle darin. Damiens Bauch ist schon zu Anfang bei der Motorbootfahrt und dann immer wieder deutlich im Bild. Lesbar als Folge der Medikamenteneinnahme wird er nicht gleich, so wie Leïla ihre Gewichtszunahme erst später als Folge des Lebens in ständiger Sorge um Mann und Kind thematisiert.
Ihr Leben in Sorge ist dann auch der eigentliche Gegenstand dieses Films. Verzweifelt versucht Leïla, die Familie, ihr tägliches Leben und das von Amine zusammenzuhalten angesichts des geliebten Mannes, der ihr und auch sich in manische Zustände entgleitet. Wieder und wieder sagt sie, sie könne nicht mehr; und macht doch erst einmal weiter.
Der Film zeigt Amine und seine Unfähigkeit, den Vater und dessen abweichendes Verhalten genau zu begreifen. Damien beschwört ihn, sich niemals für ihn oder überhaupt für etwas zu schämen. Leichter gesagt als getan, schon gar, wenn der Vater in die Klasse stürmt und sichtlich nicht ganz bei sich ist.
Es gibt, auch da ist Lafosse Realist, keine Heilung und keine Erlösung, nur ein Zusammenhalten, solange es geht; ein Aushalten der Lage, die keine Sicherheit bieten kann, was auch immer Damien sich und Amine und Leïla verspricht. Das bedingt offene Ende, das Lafosse findet, ist darum sehr konsequent. Man kann es nicht spoilern, denn die Bipolarität gehorcht keiner Katharsisdramaturgie. Das Leben geht weiter und kehrt in vertraute Bahnen zurück, aber nur, bis es wieder Grund zur Beunruhigung gibt.
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