Fake-Video über vermeintliche Tötung: Virale Desinformation
Im Netz verbreitet sich ein Video über die angebliche Tötung eines Mannes durch Ukrainer. Es kommt von einer selbst ernannten „Friedensjournalistin“.
Es ist nicht zuletzt ein Nährboden für Desinformation. Seit Ausbruch des Krieges beklagt die russische Botschaft in Berlin wachsende „Russophobie“. Um es in den Worten der Diplomat:innen aus Moskau auszudrücken: „Vor dem Hintergrund der Sonderoperation Russlands in der Ukraine hat die Verfolgung russischsprachiger Menschen in Deutschland ein beispielloses Ausmaß erreicht.“ Die Rede ist von Diskriminierung, Mobbing, Stigmatisierung. „Zielscheibe der Schikanen“ seien „alle russischsprachigen Bürger ohne Ausnahme – Russen und Juden sowie Spätaussiedler“.
Es gibt solche Fälle durchaus, das Problem ist real. Aber unter solche Fälle, die konkret und nachvollziehbar geschildert werden, mischen sich Erzählungen, die übertreiben oder ganz erfunden sind. Am Wochenende ging die Story viral, „ein Mob ukrainischer Flüchtlinge“ habe in Euskirchen im Rheinland einen 16-jährigen Russlanddeutschen namens Daniel zu Tode geprügelt. Verbreitet wurde sie unter anderem auf dem Telegram-Kanal „Neues aus Russland“ der Aktivistin Alina Lipp mit inzwischen mehr als 100.000 Abonnent:innen.
Lipp strahlte ein eineinhalbminütiges Video aus, das bis Montagmittag mehr als 150.000 Mal gesehen wurde. Eine Frau mittleren Alters stellt sich darin vor als Mutter von vier Jungen. Sie schildert auf Russisch in dramatischer Tonlage und unter Tränen, was sich zugetragen haben soll. „Leute! Er ist gestorben! Ich kann es mir nicht vorstellen. […] Der Junge war 16 Jahre alt. 16! Ich kann mir das Leid seiner Mutter nicht vorstellen. […] Diese Hundesöhne.“ Dazu kommentiert Lipp: „Der Junge hat sich ‚schuldig‘ gemacht, Russisch zu sprechen.“ Und: „Ich fürchte, das ist nur der Anfang.“
Die Polizei in NRW geht indes davon aus, dass es sich um ein vorsätzlich angefertigtes „Fake-Video“ handelt, „das Hass schüren soll“, wie die Beamt:innen am Sonntagabend twitterten. „Der für Kapitalverbrechen im Bereich Euskirchen zuständigen Polizei Bonn liegen keinerlei Informationen über einen solchen gewalttätigen Übergriff oder gar über einen Todesfall vor“, teilte diese dazu mit. Auch das Bundesinnenministerium warnt vor dem Fake. Der polizeiliche Staatsschutz ermittelt.
„Friedensjournalistin“ mit bizarren Kontakten
Seine Wirkung entfaltet das Video wohl dennoch: Die 28-jährige Alina Lipp gilt in Teilen der russischen Community als Heldin. Als „Putins deutsche Infokriegerin“ stellte sie das Nachrichtenportal t-online jüngst vor. Lipp forschte, bevor es sie zur Kriegsberichterstattung in die Ostukraine zog, für eine Zweigstelle der Moskauer Lomonossow-Universität auf der von Russland annektierten Krim-Halbinsel. Mit den Grünen, für die sie mal Kommunalpolitikerin in Hannover war, hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon abgeschlossen, die kanzelte sie als „antirussisch“ ab. Lipp, mit deutscher Mutter und russischem Vater, arbeitet aktuell für russische Propagandamedien aus der selbst erklärten „Volksrepublik“ Donezk. Sie selbst nennt sich „Friedensjournalistin“.
Ihr Publikum kommt aus alternativen Medienblasen wie der rechtsextremen Szene, den verschwörungsideologischen Milieus und den mit diesen verbandelten Teilen der Coronaleugner-Bewegung. Diese Milieus sind sich zwar nicht völlig einig, wie Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine zu bewerten ist. Aber die Tendenz ist klar pro Putin. Suspekt scheint Lipps Kreml-Hörigkeit bisher nur dem rechtsextremen „Volkslehrer“ Nikolai Nerling zu sein. In einem Video von fast einer halben Stunde Dauer nahm er Alina Lipp vor ein paar Wochen auseinander und verdächtigte sie, als „pro-russische Agentin“ zu operieren. „Der neue fünfzackige Stern am Telegram-Himmel“, höhnte Nerling in Anspielung auf den roten Stern im Staatswappen der Sowjetunion. Doch Nerling steht in seinen Kreisen mit der Kritik an Lipp ziemlich allein da.
Bei Alina Lipp waren die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie seit 2020 ein bestimmendes Thema. Ende August 2020 lief sie mit beim großen Querdenken-Protest in Berlin, drehte anschließend ein Video auf Russisch, sagte, dass Corona in Deutschland alles „viel extremer gemacht“ habe: „Meinungsfreiheit gibt es praktisch nicht mehr“, stattdessen „kontrollierte Medien“. Tausende von Facebook-Posts und -Konten, Youtube-Videos würden staatlicherseits gelöscht. Und: „Andersdenkende Anwälte“ seien nach Kritik an den Maßnahmen „in psychiatrische Anstalten eingewiesen“ worden. Lipp verbreitete die durch nichts belegte Legende, dass sich an diesem Tag mehrere Hundert Menschen quasi auf der Flucht vor gewalttätigen Polizeieinheiten vor der russischen Botschaft „hilfesuchend an Putin wandten“.
Die Netzwerke von Lipp sind bizarr, die mediale Reichweite ist erheblich: 2019 startete der Youtube-Kanal „Glücklich auf der Krim“. 2020 folgte „Drushba TV“, diesmal beworben unter anderem vom verschwörungsideologischen Kanal Ken FM. Zum Kreis der Interviewten dieser Programme gehören der Schweizer Verschwörungstheoretiker Daniele Ganser sowie auch Ralph Niemeyer, der frühere Ehemann der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht. Niemeyer teilte 2021 auf Facebook ein Foto vom gemeinsamen Kneipenbesuch mit Alina Lipp in Sankt Petersburg.
Bilderkampf um die „wahren Zustände“
Mit ihrer Kriegspropaganda kommt Lipp auch in AfD-Kreisen gut an. Der sächsische AfD-Landtagsabgeordnete Jörg Dornau übernahm die Putin’sche Propaganda. Er postete gleich nach Kriegsbeginn auf Facebook: „Die Ukraine wird entnazifiziert!“ Eine Solidaritäts-Friedensaktion mit der Ukraine an einem Gymnasium in Grimma nannte Dornau „Gehirnwäsche an unseren Kindern“. Er teilte das vom „Volkslehrer“ kritisierte Video der Aktivistin Alina Lipp, in der sie von einer „Nazi-Regierung“ in Kiew spricht, von „Nazis mitten in Europa“, die 2014 den früheren Präsidenten verjagt hätten. Dazu schrieb der AfD-Mann: „Die Darstellung über die wahren Zustände in der Ukraine, so wie es mir auch von Einheimischen erzählt wurde.“
Der angebliche Fall „Daniel“ aus Euskirchen derweil erinnert an den von Lisa F. aus Berlin-Marzahn, jener 13-jährigen Russlanddeutschen, die im Januar 2016 auf dem Weg zur Schule verschwand und von ihren Eltern als vermisst gemeldet wurde. Sie selbst behauptete, von „Südländern“ verschleppt und vergewaltigt worden zu sein. Die russische Botschaft twitterte damals in Serie – und zitierte unter anderem Außenminister Sergei Lawrow mit der Erwartung, es dürfe keine Vorfälle „wie mit unserem Mädchen Lisa“ geben. Später stellte sich heraus, dass Lisa F. lediglich Sorgen wegen der Schule hatte und sich nicht nach Hause getraut hatte. Lawrow schob die Bitte hinterher, der Fall solle nicht ausgenutzt werden, um die russische Diaspora als böse zu diskreditieren.
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